Als sich der Vorhang nach lauten Bravi-Rufen an diesem sommerlichen Sonntagabend des 14.Juli 2013 um 22:15 Uhr noch einmal öffnete, nahm die grande dame de Soprano Edita Gruberova allein auf der großen Bühne des Opernhauses Zürich die Beifallsbekundungen entgegen. Eben hatte sie als Alaide in La Straniera von Vincenzo Bellini mit einem verzweifelt beklemmendem Ei muor d’amore, vittima del mio funesto amore den Schlusspunkt unter einer glanzvollen Aufführung gesetzt.
Einen besseren Abschluss hätte die Saison 2012/13 kaum finden können. Mit La Straniera hat Bellini eine Oper, ein Melodramma in zwei Akten, wie sie im Programmheft bezeichnet ist, komponiert, die in ihrer Rezeptionsgeschichte sehr widersprüchlich ist. Obwohl sie nach ihrer Premiere 1829 enthusiastisch gefeiert und von so unterschiedlichen Komponisten wie Giuseppe Verdi, Richard Wagner oder Hector Berlioz gelobt wurde, wurde sie danach für fast 100 Jahre vergessen.
Gründe dafür traten auch in der klug reflektierten Inszenierung von Christof Loy deutlich zutage. In der Pause zum zweiten Akte zeigte sich eine Opernbesucherin unentschlossen: Ob ich mir diese bizarre Geschichte noch weiterhin ansehen und anhören möchte? Auf ein Libretto von Felice Romani (nach dem leichtgewichtigen Roman L’Etrangère von Charles –Victor Prévost Vicomte d’Arlincourt) komponierte Bellini La Straniera als eine Oper, in der grosse Gefühle in schwarzer Romantik dominieren.
Eine stringent nachvollziehbare Geschichte ist sie dagegen nicht. Vieles bleibt fragmentarisch. Fragmentarisch aber nicht im Sinne des Musikalischen, so wie sie Robert Schumann als eine musikalisch gültige Lösung ansah. Bei Bellini ist der Belcanto des Soprans das Leitmotivische seiner romantisierenden Komposition.
Die Fremde La Straniera, wie alles Unbekannte und alle die, die außerhalb eines vertrauten sozialen Milieus wahrgenommen werden, verunsichern Menschen und ihre Umgebung, geben zu Spekulationen Anlass, lassen Phantasien ins Kraut schießen. Arturo fühlt sich am Tag vor seiner Hochzeit mit Isoletta zu der fremden Alaide hingezogen. Warum auch immer. Das Geheimnisvolle in ihrer Person (ihre Identität als exilierte Königin wird erst zum Ende hin offenbar) und in ihrer suggestiven Wirkung sind für sich allein genug, um wie in einem Brennglas Gefühlsregungen zu fokussieren.
Damit ist jene Dramaturgie ge- und erfunden, die die zerbrechliche Seele als einen permanenten Gefährdungszustand des Lebens ins Zentrum der Handlung rückt. Es war noch einmal etwas von jener Treibhaus-Atmosphäre zu spüren, als ob das Opernhaus Zürich an das Festival Zürich – Treibhaus Wagner gemahnte und sich gleichzeitig davon verabschiedete.
Alaide ist das Bewegungszentrum, um das sich alles dreht. La Straniera ist, so könnte man zugespitzt sagen, eine Oper für einen Sopran und weitere Solisten. Edita Gruberova sang die Alaide in ihrem unvergleichlichen, bis in die höchsten Koloraturen klar konturiertem Sopran mit einem emphatischen Gestus mit großer Gesangskultur. Die Partie der Alaide ist in jeder Hinsicht überaus anspruchsvoll und gesangstechnisch äußerst schwierig. Sicherlich einer der Gründe, warum sie nicht häufiger auf den Spielplänen steht.
Mit Edita Gruberova stand eine Sängerin auf der Bühne, von der der Regisseur Christof Loy überzeugt ist, dass sie mit ihrer Erfahrung als Mensch und als Künstlerin einfach die ideale Verkörperung der Figur sei. In der Komposition ist alles auf den Sopran so unbedingt ausgerichtet, dass Bellini dem Tenor des liebesverwirrten und –verzweifelten Arturo programmatisch keine Solo-Arie komponierte. Daneben haben es die anderen Gesangspartien schwer, aus dem Schatten des Soprans der Gruberova herauszutreten.
Bellini lag offenbar viel an repräsentativ darzubietenden Gesangspartien. So blieb dem Dirigenten Fabio Luisi gar nichts anderes übrig, als sich mit den durch die Generalpausen der Komposition gegebenen Freiräumen für immer wieder sich lautstark äußernden Szenenapplaus zu arrangieren. Das gelang nicht immer elegant; manchmal kämpften die ersten Töne der folgenden Szene noch mit dem nur langsam verklingenden Beifall.
Arturo, von Dario Schmunck (Tenor) in Teilen mit gebremster Noblesse gesungen, wird für andere immer mehr auch zu einem Fremden mit ebenso befremdlichen Emotionen, wie er sich gleichzeitig über seine Gefühlsregungen selbst nicht im Klaren ist. Arturos Braut Isoletta (italienisch: das Inselchen) kann man mit ihrem Namen durchaus eine eigene metaphorische Bedeutung zu messen.
Als sich Arturo im zweiten Akt vorübergehend entschloss, Isoletta doch zum Traualtar zu führen, erinnerte die Szene an die Fotoserie Bored couples von Martin Parr, die zur Zeit, nur wenige Minuten vom Opernhaus entfernt, im Museum für Gestaltung in Zürich zu sehen ist. Trostlos verloren wie auf einem Inselchen ausharrend, von tosenden Liebesgewässern umgeben, singt die junge Mezzosopranistin Veronica Simeoni die Isoletta in einem hoffnungslos anmutenden Wartestand gleichwohl mit zartem Gefühl.
Die Oper wird von Christof Loy als Kreisbewegung inszeniert, die die Katastrophe als Menetekel mit dem Anfang der Aufführung schon vorweg nimmt. Im Vorspiel ließ Arturos Hantieren mit Hängeseilen an Selbstmordabsichten denken. Aber dann ist es genauso der vorerst nur phantasierte Todesfall aus dem ihn Isoletta errettet, wie er gleichermaßen schicksalhaft nur aufgeschoben bleibt.
Im Bühnenbild von Annette Kurz werden variantenreich immer wieder Seile, Stricke, Schleier, Stoffbahnen aus dem Bühnenhimmel auf- und abgezogen. Fallstricke, Galgenstricke, Haltestricke – anspielungsreiche Arrangements offenbaren: Nichts ist klar im romantisch geschwärzten Assoziationsraum der Gefühle.
Wenn man im Bühnenraum der Oper Zürich zur Decke schaut, sieht man neben Wolfgang Amadeus Mozart und Carl Maria von Weber auch Richard Wagner aus dem Komponistenhimmel interessiert auf das Treiben nach unten schauen. Wie würde er wohl heute 200 Jahre später über diese La Straniera denken? Den Gesichtern der meisten Opernbesucher sah man an diesem Abend an, dass sie in der Gewissheit nach Hause gegangen sind, vor allem eine stimmlich außerordentlich überzeugende Edita Gruberova erlebt zu haben.
17.07.2013