Woyzek und Ballett, wie geht das zusammen? Sperrig, verzweifelt, schlaff nach vorn fallende Schultern, mit jedem Schritt seiner eigenen Trostlosigkeit und schliesslich dem finalen Schritt zum Mord näherkommend, so läuft Georg Büchners Woyzek seit Jahrzehnten über die Theaterbühnen.
Als Tänzer in einem Ballett, eine irgendwie abwegige bis schwierige Vorstellung. Aber gerade solche Nicht-Ballett-kompatible Figuren reizen ganz offensichtlich den Direktor des Balletts Zürich Christian Spuck. Für ihn nach eigener Aussage eine verlockende Herausforderung. Obwohl schon 2011 mit dem Nasjona Balletten, Den Norske Opera & Ballett, Oslo uraufgeführt, hat er die Choreografie in einigen Details neu strukturiert und eine durchaus eigenständige Zürcher Fassung erarbeitet.
Jede Theaterinszenierung von Büchners Dramen-Fragment ist eine kreative, rekonstruierende Herausforderung. Weniges ist von Büchner schlüssig zu Ende formuliert. Er hat ein Text-Konvolut als einen literarischen Steinbruch hinterlassen. Nichts weniger als dieses Textmaterial zum Tanzen zu bringen, aus Büchners Sätzen starke Konkretionen zu extrahieren und narrative Bilder zu choreografieren, hatte sich Spuck mit seiner Zürcher Ballett Compaganie vorgenommen.
Ihren ästhetischen Anspruch haben sie mit Eleganz der klobigen Absätze griffig formuliert – und das Klobige verblüffend leicht werden lassen. Ihnen gelang eine suggestive Eleganz dort, wo man sie am wenigsten vermutet: Am Grund aller menschlich denkbaren, existentiellen Verzweiflung. Spuck seziert in seiner Woyzek-Choreografie das Büchner’sche Figurenensemble Figur für Figur und fügt sie gleichzeitig zu einem grotesk verlorenen, todtraurigen Sozialpanoptikum von Opfern und Tätern zusammen. Dabei war er klug genug, nicht Alban Bergs Oper Wozzek als Musikvorlage zu verwenden.
Das Grundgerüst der Musik sind vor allem Filmmusikkompositionen von Alfred Schnittke (1934 – 1998) und kammermusikalische Kompositionsauszüge von György Kurtâg (Jahrgang 1946). Johann Sebastian Bachs Choral Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit stimmt einen ersten (und gleichzeitig letzten) Hoffnungsfunken als Impromptu an und wird abschliessend als Epilog wiederholt. Mit kurzen elektronischen Musikstücken des 1974 geborenen Martin Donner, die leitmotivisch die einzelnen Figuren charakterisieren, bilden sie die musikalische Klammer des Balletts. Eine Musik-Collage, die den choreografischen Ansprüchen überzeugend gerecht wird.
Dem Woyzek schrieb der junge Jan Casier mit einem 3-minütigen Eingangssolo in atemberaubend anzuschauenden Variationen die Woyzek-Geschichte als Resümee vorab mit ganzem Körpereinsatz in den Bühnenboden. Als würde eine Scherenschnittfolge im Zeitraffer durch eine Camera obscura gezogen, formte und tanzte er Woyzeks Albtraum bis an die Grenze der Selbstaufgabe. Casier gab damit eine Tanzlinie als non-verbales Bewegungstheater vor. Er ist nicht nur ein elegant klobiger Tänzer; er ist auch der Szenenfolgen-Beweger. Eine S-förmige, drehbare Wand (Bühnenbild und Kostüme: Emma Ryatt) ist einmal ein abstrakter Raum (Zimmer, Casino, Labor); andererseits immer wieder Landschaftsraum. Woyzek drehte nicht nur (bühnentechnisch) das nächste Bild. Es mutete wie eine allfällige Sisyphus-Vergeblichkeit an, den Dreh ins Richtige, in eine wie auch immer zu gestaltende Familien-Normalität mit Marie zu finden.
Eindrucksvoll, wie die perspektivisch verkleinerte, pittoresk gemalte Dorf-Silhouette den Hintergrund für das tänzerische Psychogramm des Aussenseiters Woyzek und den ebenso, wenn auch anders Verlorenen bildet. Aber bevor sich auch nur ein Spalt in der Drehtür zu öffnen schien, war Marie schon weg getanzt. Federleicht, als ob die Gesetze der Gravitation für sie nicht gelten würden, schwebte Katja Wünsche als Marie in ihren Hoffnungen nach einem besseren Sein als dem mit dem Loser-Kindsvater Woyzek auf einer hoffnungsvollen Tanzwolke davon; dem Tambourmajor in die Arme und von dort immer weiter abwärts bis in die Gosse.
In ihrem Tanz entstanden Figuren und Bewegungen wie gemalte Assoziationen. Das ansonsten Spektakuläre erschien bei ihr wie das Selbstverständlichste. Selbst da, wo sie in der Begegnung mit dem Tambourmajor (William Moore in faszinierender, demaskierender Körperlichkeit) die Sackgasse für sich und alle Beteiligte wie eine Schleuse öffnete, hatte ihr tänzerisch zelebriertes Welt-Entschweben etwas Unbeschwertes. Auch wenn ein armes Weibsbild, das nur ein Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel hat, auch einen so roten Mund als die grossen Madamen behauptet, wird sie das Ziel ihrer Träume nicht erreichen.
Katja Wünsches Tanz ist der Versuch einer Gegenbehauptung. Leichtigkeit und Erdenschwere über-tanzte sie barfüssig gegen die klobigen Schuhe mit dem Mut wider der Verzweiflung. Weder Woyzek noch Marie gelingt es, sich in die eingehakt tanzenden Paar-Bastionen einzuhaken, sich in Normalität, auch wenn sie nur eine Schein-Normalität ist, einzuklinken. So wie Woyzeks verzweifelten Dienstleistungsangebotsversuche ihn nur immer mehr demütigen und demontieren, verliert Marie ihren Selbstrespekt und für ihn ihre Existenzberechtigung überhaupt.
Woyzek als Theaterstück erzählt die gleiche Geschichte wie das Ballett. Und doch auch eine andere. Die Bilder des Tanzes führen die Phantasie der Zuschauer noch auf erweiterte Wahrnehmungsebenen. Zum Tanz auf dem Vulkan. Woyzek, das Ballett von Christian Spuk ist mehr als nur eine Fussnote des Opernhauses Zürich zum 200.Jubiläumsjahr von Georg Büchner zwischen Wagner und Verdi. Es ist ein Plädoyer für die Kunst der Bewegung, die bewegt.
20.10.13
Hat dies auf ballettlovers rebloggt.
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