Ein regenfeuchter Juniabend in Recklinghausen. Noch den überschäumenden Applaus nach der Aufführung der Dreigroschenoper als Gastspiel des Berliner Ensembles bei den Ruhrfestspielen im Ohr, wenige Minuten später in der Bahnhofsklause eine Fortsetzung von Brechts Moritat im Hier und Heute. Aus der Box wabert nostalgisch Daddy cool von Boney M und wettstreitet im Unterbewusstsein mit den legendären Songs von Kurt Weill.
Auf den Regionalzug via Essen wartend ist Zeit für einen halbstündigen Seitenwechsel. Drei Männer mittleren Alters , die hier kurz vor Mitternacht mit einem Glas Bier in der Hand ihre mehr oder weniger alkoholisierten Weltsichten lebhaft austauschen, sind sicher nicht das erste und wahrscheinlich auch nicht das letzte Mal hier. Während der finale Song aus der Dreigroschenoper – Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht – noch nachklingt, fällt einem ein irritierender Gedanken vor die Füße. Jene drei und die junge Frau – ich bin immerhin schon Jahrgang 2000 – auf der anderen Seite der Theke von der Deckenbeleuchtung für Momente ins Licht gesetzt, tauchen spätestens auf dem Heimweg wieder ins Dunkel ab.
Regisseur Barrie Kosky beantwortet die Frage, ob Brechts Stück nach John Gay’s Beggar’s Opera nur als Verspottung unserer eigenen Scheinheiligkeit zu sehen ist, radikal und konsequent: Für mich äußert sich vor allem in der Musik ein zarter humanistischer Ton…..Zynismus und Lyrik stehen nebeneinander. So gesehen,scheint der Mond über Soho auch über Recklinghausen.
Zurück ins Festspielhaus. Schnellen Schritts huscht der Dirigent, Pianist und Organist Adam Benzwi in den Graben. Ohne Umschweife setzt die Musik vehement ein. Besetzt mit jeweils zwei Holz- und Blechbläsern (Doris Decker, James Scannell/Vit Polák, Otwin Zipp, von der Posaune zum Kontrabass wechselnd), sowie mit Stephan Ganze am Schlagzeug und Ralf Templin (Gitarre, Banjo), legen sie temperamentvoll los. Am oberen Rand einer modularen Bühnenarchitektur von Rebecca Ringst steckt Josefin Platt als Mond von Soho ihren Kopf durch einen Lametta-Vorhang: Und der Haifisch, der hat Zähne.
Sie gibt mit ihrem akzentuiert schrägen Betonungen die Richtungen vor. Eine furiose Reise beginnt, die mehr als drei Groschen Wert ist. Für drei Stunden begeben sich die Zuschauer auf eine rasante Fahrt in den Gleisen von Brechts dialektischer Dramatik. Koskys Inszenierung ist eine Mischung aus sozialkritischen Moritaten und bunter Unterhaltung, die auf und entlang einer wandelbaren, den ganzen Bühnenraum einnehmenden riesigen Regalbretter-/Kletterwand zum Staunen einlädt. Sie hält sich konsequent an die Textfassung von Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann. Wenige Streichungen sowie sporadisch eingeworfene Heute-Stichworte wie Südkurve oder Festspielhaus verzerren nichts in eine demonstrativ kolportierte Demontage des Zeitgeistes.
So sportiv und mobil sich die Schauspieler – alle Hauptrollen von Ensemblemitgliedern des Berliner Ensembles besetzt, allen voran der großartige Nico Holonics als Mackie Messer – durch dieses Gewirr von oben nach unten arbeiten sie sich durch, sich für die Songs formidabel in Positionen setzen, drängt sich eine Frage auf. Eine, die von der Kritik (und von Brecht nach der Uraufführung 1928 selbst) immer wieder gestellt wird: Rauschhaftes Unterhaltungsstück, gewürzt mit, wie es Alfred Kerr formuliert, Häppchen kommunistischen Zungenschlags – oder kritisch konnotierte Parabel? Erst kommt das Fressen, dann die Moral.
In dieser Hinsicht bleibt die Inszenierung unentschieden. Keineswegs unentschieden sind die Spiel- und Gesangskünste der rollenaffin agierenden Darsteller. Tilo Nest als Peachum, anfangs etwas unkonzentriert forsch, gibt mit der maliziös untertönig spielenden Constanze Becker als Celia Peachum eine Paargemeinschaft, die sich vor allem als Wirtschaftsgemeinschaft versteht. Ihre Tochter Polly ist die Währung. Cynthia Micus stellt exklusiv mit exotisch geschmeidigem Timbre eine junge Frau voller Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit dar. Auch wenn sie auf den falschen setzt, ist und bleibt sie von sich absolut überzeugt. Eine Polly authentischer als Micus istschwer vorstellbar.
Im Eifersuchtsduett von Micus mit Laura Balzer als Lucy gewinnt die Aufführung eine bemerkenswerte Unterhaltungshöhe. Brechts dialektisch zentrierte Theateridee wird von einer farbenbunten Bühnenshow an den Rand gedrückt. Ob es noch um Brecht oder vielleicht um Shakespeare geht, verliert sich im dankbar belachten Scherz. Rasant und schwungvoll wird die bürgerliche Larmoyanz aufgemischt. Die Dramaturgie von Sibylle Baschung leistet nicht nur hier ganze Arbeit.
Der Ordnungshüter Tiger Brown, von Kathrin Wehlisch in umwerfend chaplinesker Komik dargeboten, steht für Celia Peachums Überzeugung: Geld regiert die Welt. Die Spelunkenjenny von Bettina Hoppe zeigt eine aufreizende Beiläufigkeit. Worte und Gesang, nüchtern vorgetragen, bedürfen keiner zurecht gebastelten Konstruktionen, um das Wesen der Figur zum Ausdruck zu bringen.
Dass am Ende auch bei Kosky der reitende Bote den widerstreitenden Parteien eine relative Gerechtigkeit zusprechen, folgt Brechts dialektischer Logik: Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Mackie Messer vom Galgen gerettet – Wo die Not am größten, ist die Hilfe am nächsten -, gehen alle getröstet nach Hause. Unter bestimmten Umständen, sollte man das Unrecht nicht zu sehr verfolgen.
Die Stammgäste in der Bahnhofsklause zu fragen, wie sie darüber denken, bleibt keine Zeit mehr. Die Regionalbahn wartet nicht.
11.06.2022