Bill Frisell Trio interaktiv im Ebertbad

Bill Frisell ist mit seinem langjährigen Trio im Ebertbad in Oberhausen zu Gast – nach dem John Scofield Trio (Scofield zu Hause in Oberhausen vom 26.03.24) sowie dem Dave Holland Trio (Ohne Wenn und Aber vom 11.04.24) in diesem Frühjahr ein weiteres Jazz-Highlight. Überraschend bleiben die letzten drei Reihen unbesetzt. Frisells Standing in der Szene ist spätestens mit dem Dokumentarfilm Bill Frisell: A Portrait (2017) von Emma Franz schon jetzt eine Jazz-Monument.

Der über Jahrzehnte zu einer Gitarrenlegende gereifte Frisell (Jahrgang 1951) hat mit dem Bassisten Thomas Morgan (Jahrgang 1981) und dem Drummer Rudy Royston (Jahrgang 1971) ein exorbitantes Trio-Spiel entwickelt. Obwohl verschiedenen Generationen angehörend, sind sie Partner mit- und füreinander. Sie sind musikalisch flexibel und spontan genug, sowohl Frisell als auch jedem einzelnen von ihnen zu folgen. Ein Triospiel, das in vielen Konzertauftritten eine unverwechselbare Authentizität entwickelt hat. Bekannte Frisell-Kompositionen sowie populäre Folk- und Standard-Titel werden mit akzentuierten Akkordbrechungen überraschend rekonstruiert.

Auf Augenhöhe finden sie sich im Ebertbad zu einem interaktiven Grooven zusammen. Soundlinien von jetzt auf gleich verlangsamend oder beschleunigend. Auffrischende Phrasierungen setzen Reflexionspunkte, so als würde während eines Gesprächs ein neuer Gedanke plötzlich aufblitzen, der mitgeteilt sein will. Frisells geschmeidig betonte, mit Eleganz von Morgan und Royston kommunizierte Gitarrenläufe messen ein musikalisches Terrain aus, das sich mitunter in selbstreferentieller Verliebtheit gefällt.

Solche Kipppunkt-Momente sind für Morgan und Royston unmittelbare Anlässe, die vom Gitarristen dominierten Gesprächslinien umzubiegen. Dass das nicht wider Frisell geschieht, sondern von ihm mit zustimmenden Lächeln goutiert wird, lässt sich in Folge eines Drum-Solos ablesen. Roysten trommelt überwiegend mit geschlossenen Augen, gleichwohl mit wachem Rhythmusgefühl für den relevanten Beat-Kontrast. Nur mit wenigen Augenaufschlägen vergewissert er sich, wohin Frisell gerade unterwegs ist.

Währenddessen lauscht Morgan in der Haltung eines aufmerksamen Schülers, der nichts verpassen will. Der Bass ruht in der linken Hand. Die Rechte schwebt über den Saiten – und greift akkurat in sie, nimmt Roystons Akkord-Arabesken an. Schleicht sich in sie gleichsam hinein, um selbst die Improvisation zu zelebrieren. Morgans Solo interagiert farbenfroh mit Frisells Akkordtönen. Ausdruck einer tiefen musikalischen Beziehung, die ebenso zutiefst lyrisch wie abenteuerlich ist. Wenn Thomas mit mir spielt, ist es, als würde er eine Zeitreise unternehmen….Rudy ist auch erstaunlich präsent…Sein ganzes Wesen steckt in der Musik, schwärmt Frisell.

Im Oberhausener Konzert entlädt sich eine kommunikative Energie, die originär wie originell klingt. Es scheint, als stecke hinter jedem Impact der Sets eine Botschaft. In Variationen jene von untilgbarer Zuversicht getragene: We Shall Overcome.

15.05.24
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Geschichte des Blutwursttages

Recklinghausen und Mülheim an der Ruhr sind seit Jahrzehnten im Mai Orte, wo Schauspielkunst exemplarisch bewundert werden kann. In diesem Jahr vor allem solistische Frauenpower der Extraklasse. Wenige Tage nach dem Laios von Lina Beckmann bei den Mülheimer Theatertagen (Laios – Beckmanns grandiose Solo-Performance vom 10.05.24) wirft bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen Stefanie Reinsperger mit ihrer berserkerhaften Darstellung des Psychopathen Bruscon in Der Theatermacher sozusagen den Fehdehandschuh in den Ring.  Beide gehen als triumphale Siegerinnen aus diesem hervor.

Der Weg des Stücks Der Theatermacher von Thomas Bernhard, 1985 bei den Salzburger Festspielen in der Regie von Claus Peymann uraufgeführt, führt via Berliner Ensemble zurück in die Gegenwart. In der Kontinuität vom Salzburger, respektive Wiener Peymann (1986–1999 Direktor des Burgtheaters Wien) und seiner BE-Intendanz (1999-2017) misst die Neuinszenierung von Oliver Reese (seit 2017 Nachfolger von Peymann in Berlin) eine Zeit von 40 Jahren aus. Angesichts der in vielen Ländern zu beobachtenden Akzeptanz nationalistisch extremistischer Gesinnungen bis in die Mitte bürgerlich demokratischer Gesellschaften ist Bernhards wohl berühmtestes Stück so aktuell wie je zuvor.

Der Kampfplatz Theater als absurde Erfindung eines Irrenhauses bedeutet nach Thomas Bernhard nichts weniger als eine lebenslange Selbstgefangennahme. Leben ist vom Schauspielen nicht mehr unterscheidbar. Leidenschaft, exzessiv erlebt und gefühlt, verkörpert die von der Kritik als BE-Starschauspielerin bejubelte Stefanie Reinsperger bis in ihre Zehenspitzen, begleitet von Urlauten und Wahnsinns-Schreien. BrusconIch bin der größte Schauspieler aller Zeiten! – charakterisiert sie als einen alle moralisch ethischen sowie ästhetischen Maßstäbe hemmungslos entgrenzenden, psychopathischen Wüterich.

Die Bühne, ein verrottet brüchiger Schuppen, eine Resterampe von Schützenfesten, von abgestellten, nationalsozialistisch in Ehren gehaltenen Militaria-Helden-Bildnissen: Was hier, in dieser muffigen Atmosphäre, als ob ich es geahnt hätte. In diesem gottverlassenen Utzbach, würgt Rheinsperger den Ortsnamen kauderwelschend, nahe an einem Erstickungsanfall, soll Das Rad der Geschichte gedreht werden. Hier, in dieser schwül warmen Bruchbude, wo jeden Dienstag Blutwursttag ist, wo es nur Schweinemastanstalten, Kirche und Nazis gibt, soll die großartigste Menschheitskomödie des Staatsschauspielers Bruscon ihren Laufnehmen.Hier nimmt auch Bernhards Abrechnung mit seinem verhassten Österreich sein Lauf. In Utzbach, in Recklinghausen.

Rheinsperger beklagt, zwischenzeitlich larmoyant narzisstisch in Selbstverliebtheit wehklagend, mit sich steigernden Schreikaskaden die Vergeblichkeit der Kunst in einer verkommenen, noch immer nationalsozialistisch schwärmerisch umflorten, grundsätzlich dummen Gemeinschaft. Die hohe Schauspielkunst bricht wie ein Kartenhaus zusammen, bevor sie überhaupt begonnen hat. Von nichts weniger überzeugt, als eine Komödie, die alle bisherigen Komödien enthält, geschrieben zu haben, tritt Bruscon wie der elaborierte Elefant im Theater-Porzellanladen alles nieder.

Er, dem alle und alles in seinem Machtphantasien als Staatsschauspieler ungenügend scheint, spielt selbst alle Hauptrollen: Kierkegaard, Cäsar, Metternich, Hitler. Außer ihm – alle talentlos und ungeeignet. Er randaliert gegen die von ihm ausgemachten Anti-Talente seiner Frau – Dein einziger Reiz, ist dein Reizhusten (Christine Schönfeld, reduziert auf Husten-Varianten), seines angeblich körper- und hirnversehrten Sohnes Ferrucchio sowie seiner angeblich strohdummen Tochter Sarah. Adrian Grünewald und Dana Herfurth sowie der Bruscon meistens stumm betrachtende Wirt (Wolfgang Michael) funktionieren in diesem Bernhard-Tableau mehr oder weniger nur als Stichwortgeber für die nächste Tirade des Berserkers.

Das Spiel Rheinspergers entwickelt einen faszinierenden wie gleichzeitig beängstigenden Sog widerstreitender Emotionen. Frauen machen nur Theater. Männer sind das Theater. Sie geht bis an ihre physischen sowie an die Grenzen ihrer sprachlichen Lamentos. Das Zuschauen suggeriert eine Vorstellung von der Bösartigkeit von Despoten und Machthabern aller politischen Couleurs in der Menschheitsgeschichte, denen es immer wieder bis zum heutigen Tag gelingt, Menschen für die eigenen Wahnvorstellungen einzufangen, sie in Geiselhaft ihres Wahnsinns zu nehmen.

Selbst der Feuerwehrhauptmann und Handwerker – einer, der es versteht Fässer zu binden – ist nicht ohne weiteres bereit, das von Bruscon als den Ernstfall für den Erfolg seines Stückes geforderte Abschalten des Bühnennotlichts für fünf Minuten zu akzeptieren. Es sei nicht rechtens, eher brenne die Feuerwehr selbst ab, bevor sie zum Einsatz kommt.

Die Bühne (Hannsjörg Hartung) entblättert sich als Staffage. Selbst die Live-Musik (Ralf Schwarz & Co) schafft nur noch ein erstickendes Ausatmen. Das in die Bühnenarchitektur einbrechende Gewitter spült den Theatermacher-Hero als Popanz hinweg. Der Tisch, auf dem die unabkömmliche Frittatensuppe während jeder Tournee durch die Provinz serviert werden sollte, liegt nach einem desaströsen  Kunst-Wütens Bruscons als unbrauchbarer Restmüll herum. Die leeren Plastik-Sitzmöbel hinter dem roten Vorhang der Bühne auf der Bühne bleiben unbesetzt. Lieber Wetterkapriolen bestaunen als skandalisiertes Theaterspektakel in Ratlosigkeit erleben.

Auf der anderen Seite, im Parkett des Festspielhauses, bricht Jubel aus. Stefanie Rheinsperger ist die konkurrenzlose, strahlende Königin in diesem Ring an diesem Ort in Recklinghausen.

15.05.24

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Laios – Beckmanns grandiose Solo-Performance

Das Theaterprojekt Anthropolis – Ungeheuer. Stadt. Theben von Roland Schimmelpfennig in der Uraufführung des DeutschenSchauspielHauses Hamburg bewegt, erregt und verwirrt den Kopf und das Herz mit einer energetisch aufgeladenen Intensität kollektiver und solistischer Schauspielkunst (Anthropolis: Wer sind wir? vom 25.11.23).

Aufgeblättert in der Reihenfolge – Prolog/Dionysos – Laios – Ödipus – Jokaste – Antigone -, spannt die Inszenierung einen Bogen über mehr als 2.400 Jahren Zivilisationsgeschichte. Für die 49. Mülheimer Theatertage, die der seit Jahren wichtigsten Präsentation der besten neuen deutschsprachigen Stücke, haben die Juroren aus der Anthropolis-Penthalogie den Solitär Laios ausgewählt.

Laios geriert sich zu einem atemberaubenden Solo-Abend mit Lina Beckmann – neben dem tragischen König Laios ist sie auch Kreon, der Bruder von Jokaste als auch der antike Chor. Ihre Anverwandlung der einzelnen Charaktere entwickelt sich zu einem solistischen Parforceritt mit grotesken Untertönen. Im Publikumsgespräch nach der Aufführung betont Schimmelpfennig, dass dieser Laios-Text als Solo-Performance seiner Überzeugung von einem unzerstörbaren Theater am meisten gerecht wird.

Die Entstehungsgeschichte von Anthropolis ist vielleicht die direkteste, teilweise prophetisch unfassbarste Reflexion auf den pandemiebedingten Lockdown. Der offene Lebensraum Stadt wird im Frühjahr 2020 geschlossen. Diese bisher in der Gegenwart nicht gekannte (gelebte), übermächtige Wirklichkeit, erinnert sich die Dramaturgin Sybille Meier, rückt in Gesprächen Schimmelpfennigs mit der Regisseurin Karin Beier und dem Bühnenbildner Johannes Schütz die Geschichte der griechischen Polis in den Mittelpunkt.

Schimmelpfennig überträgt den Mythos von der Gründung der Stadt zum Ausgangspunkt der europäischen Zivilisation in assoziativer Anlehnung an Erzählungen und Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides. Die Dramaturgie der griechischen Tragödie mit ihrer Divergenz von Gott und Mensch, die sich auf Natur/Tier und Mensch verschiebt, entwickelt sich in Schimmelpfennigs Text zu einer aktualisierten Geschichte der Menschheit heute. In bisher nie gekannten Dimensionen hat sie in Verantwortung für einen Lebensraum für alle, für Tiere, Pflanzen und letztlich für sich selbst Schuld auf sich geladen.

Die griechische Mythologie mit ihrer blindwütigen, lernblinden Abfolge von Aufbau, Zerstörung, Wiederaufbau, neuerlicher Zerstörung, bis in die Gegenwart (Überfall Russlands auf die  Ukraine sowie die militärisch politische, von der Hamas instrumentalisierte Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästinensern) geht immer weiter so, erzählt Schimmelpfennig mit einem reduzierten Sprachrhythmus. Objektiv-Reihungen, in denen sich das Subjekt als ein Ich-Wir-Palimpsest entziffert.

Laios, gequält von dem Orakel (hör auf, hör auf, hör auf, wann hört das auf, es hört nicht auf), das ihm einen inzestuös mordenden Sohn, Ödipus ankündigt, halluziniert eine Katze am Himmel. Die Katze ist eine Frau mit einem grün schillernden Kleid, wie es Europa trug, als der Stier sie im Prolog entführte. Dieser Laios schreit mit Beckmann verzweifelt und vergebens nach Erlösung. Das nimmt einfach kein Ende….von nun an singt das Ding am Himmel, die Katze, in den Köpfen aller Menschen in der Stadt, Tag für Tag und Jahr für Jahr.

Beckmann transformiert mit ihrem Spiel Schimmelpfennigs Sprachtext zu einem konvulsivisch mäandrierenden Hörerlebnis. Im Publikumsgespräch gefragt, wie sie sich in und durch diese Text-Collage orientiert, denkt sie kurz nach und lacht: Auf Zack sein – und einfach machen…

In 90 Minuten meistert sie berserkerhaft und poetisch zugleich steile Berghänge, taucht in tiefe Flüsse ein, verweilt in rauschhaft stillen Ebenen. Changierend zwischen Erzählerin, Chor der Thebaner, Laios, dem von sich selbst überraschten König, Jokaste, die wie nebenbei seine Frau und Königin wird, spannt Beckmann einen mythischen Bilderbogen, der in Kreisbewegungen immer wieder zum Anfang zurückkehrt: Eine schmale, staubige Straße, weit entfernt, die Stadt….auf der Straße ein Mann, ein Mann auf einem Wagen….Am Himmel keine einzige Wolke. Ein Vogel. Das retardierende Moment, dass es kein Vogel, sondern eine Katze, eine Frau ist, assoziiert ein Menetekel ganz von dieser Welt.

Schimmelpfennigs am Ende in der zum Prolog identischen Textzeile räsoniert in Beiers Inszenierung Laios Angst wie im Angessicht eines Damoklesschwertes: Bist du das? Beckmann geht in ihre Ausgangsposition zur hinteren Bühnenwand. Lautstarker Applaus holt sie in den Vordergrund zurück. Solo einer Schauspielerin in ihrer eigenen Liga!

10.05.24

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Please touch! – Do not touch?

Es sind gegensätzliche Wahrnehmungen, die den Ausstellungen Tony Cragg. Please touch! und Size Matters. Größe in der Fotografie im Kunstpalast Düsseldorf Raum geben. Während in der Cragg-Schau das in Kunstausstellungen weltweit übliche, beinahe programmatische Verbot – Die Kunstwerke nicht berühren! – aufgehoben ist, wird es wenige Meter entfernt im selbigen Haus eine Etage tiefer bei Size Matters wieder in Kraft gesetzt.

Einerseits ist der Kunstpalast stolz auf die Einrichtung einer ersten umfangreichen Präsentation in einem Museum, in der sämtliche Bildwerke ertastet und erfühlt werden dürfen. Andererseits gilt nebenan wieder Please, Do not touch. Konsequent auch für zwei Cragg-Skulpturen, die sich in die formatierten Größenverschiebungen der ausgestellten Fotografien eingeschlichen zu haben scheinen. Ebenso ist ehrfurchtsvoller Abstand vor einem Stapel privater (?), festverschnürter Fotoalben geboten.

Dass für Cragg die Wahrnehmung seiner Arbeiten eine immens sinnliche, existentielle ist, lässt sich in der Ausstellung vielfach beobachten. Eine Gruppe älterer Damen stimmt darin überein, dass in den aus Holz gefertigten Arbeiten eine angenehme Wärme zu spüren ist. Das mache sie zugänglicher, auch sympathischer, als würde man einen Bekannten freudig begrüßen und umarmen. Das tun tatsächlich viele Ausstellungsbesucher. Es ist, als würde das hölzerne Please touch! gegenüber der unmittelbar erfahrenen Kühle von Glas und Stahl eine Sehnsucht erfüllen, die mit dieser Unmittelbarkeit ansonsten auf Distanz der visuellen oder auditiven Wahrnehmung reduziert ist.

Please touch!ist ein Renner, ein Publikumsmagnet, der wenige Wochen vor dem Ausstellungsende schon mehr als 100.000 Besucher angezogen hat. Eine Relevanz der öffentlichen Zustimmung, die ansonsten nur entsprechend kalkulierte und gehypte Blockbuster-Ausstellungen für sich in Anspruch nehmen können. Die Botschaft einer Teilhabe des Publikums mit allen Sinnen in einer Kunstausstellung ist offensichtlich. Und dass sie schnell an ihre Grenzen, auch die des Eigentumsrechts von vor allem privaten Sammlern stoßen kann.

Dabei ist anzumerken (und anzuerkennen), dass eine Konkurrenz öffentlich geförderter Häuser mit ihrem vergleichsweise bescheidenen Ankaufsbudget nicht wirklich gegeben ist. Ihr Kapital sind die häufig über mehr als 100 Jahre gesammelten Werke aus finanziell besseren Zeiten und Donationen. Von daher verbieten konservatorische Gründe, respektive Werterhaltung für Bereitstellung und gegenseitigen Austausch für Ausstellungen eine generelle Freigabe.

Nichtsdestotrotz ist nach dieser für den Besucher umfassend wahrnehmbaren Ausstellungserfahrung die Frage nach Kommunikation und Interaktion zwischen Kunstwerk, Ausstellungsort und den Bedürfnissen der Besucher, mit diesem Perspektivenwechsel geradezu provoziert, mehr in den Blickpunkt geraten als bisher.

In dem die Ausstellung begleitenden Interview sind sich Generaldirektor Felix Krämer und Cragg anfänglich einig. Durch Berührung werden die Arbeiten nicht besser. Eigentlich… Für Cragg selbst spielt dieser Aspekt bei der Arbeit an seinen Werken keine Rolle. Wie sich das anfühlt? So denke ich nicht. Mir ist die visuelle Wahrnehmung das Eigentliche….Dass Menschen (Sammler) mit meinen Arbeiten leben wollen, ist schon verrückt.

Verrückt geht auch, wie in Size Matters zu erfahren ist, ganz anders. Maßstäbe im fotografischen Bearbeitungsprozess zu verrücken, kann man als Sinnbild verrückter Bedeutungsverschiebungen verstehen. Was groß und was klein, was richtig und was falsch ist, öffnet variable Sehräume. Das Authentische misst sich mit Momenten von Reflexion und Assoziation. Die Formate der Bildrezeption spielen verrückt. Absichtsvoll keine Dokumentation einer Realität, die letztlich nur subjektiv sein kann und damit allein für den Fotografierenden in diesem einen Moment seine Realität sein kann. Die Realität in der Kunst ist die Imagination.

Size Matters bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Dinge der Weltwahrnehmung im Großen wie im Kleinen als eine Befreiung von einer suggerierten Eindeutigkeit zu sehen. Denn, diese gibt es nicht. Kontrolle über die Dinge haben zu wollen, ist vielleicht das größte Missverständnis einer sich aufgeklärt gebenden Gesellschaft.

09.05.24
photo streaming Tony Cragg

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Lichter in der Nacht

Fred Hersch – Silent.Listening © ECM 2024

Silent. Listening, bei ECM veröffentlicht, kann man wie eine Selbstbeschreibung des Pianisten Fred Hersch lesen. Seit Jahren einer der interessantesten Jazz-Pianisten weltweit, ist er kein lärmender Lautsprecher. Schweigen, zuhören, in sich hinein lauschen. Softly, As In A Morning Sunrise gestimmt, schlägt er mit dem so titelnden, vorletzten Song einen kreativ hoffnungsvollen Bogen zurück zum ersten mit Star-Crossed Lovers.

Hersch versichert nicht nur den vom Unglück verfolgten Liebenden auch in dunklen Zeiten einen poetisch klangmalenden Hoffnungsschimmer. Licht durchflutet die Nacht mit impressionistischen Facetten (Night Tide Light). Er versteht Silent.Listening programmatisch als ein musikalisches Statement von Anfang bis Ende. Seine Improvisationen lauschen als Storytelling music in die Nacht. Den Blick zum Himmel gewendet, lädt seine Musik ein, mit ihm zu wagen, nach den Sternen zu greifen (Starlight).

Spontan komponierte Strukturen assoziieren kontrapunktisch gebaute Klangräume. Eine Meditation in zeitgenössischen Klangwelten vornehmlich mit eigenen Kompositionen. Standards durchmischen in freien Improvisationen die Tracks. Sie weisen ins Offene, ins Unvorhersehbare, ins Fließende: Panta rhei. Ein Handeln wider besseres Wissen absichtsvoll wie in Akrasia zu thematisieren, gehört zu Herschs musikalischem Selbstverständnis. Nichts unbedingt bis ins kleinste Detail kontrollieren zu wollen. Vielmehr gleich den Aeonen der antiken Philosophie den Klängen ihre spirituelle Essenz abzugewinnen (Aeon).

Die schon für die ECM-Produktion The Song Is You mit Enrico Rava (2021) verantwortliche großartige Akustik des Auditorio Stelio Molo RSI in Lugano war auch für diese Solo-Aufnahme sein absoluter Wunschkandidat. Sie ist, so Hersch, in meinen Ohren nahezu perfekt. Eine Perfektion, die keiner Geste als missverstandene L’art pour l’art nachläuft. Mit Little Song, ursprünglich für das Duo mit Rava geschrieben, löst er ein Selbstverssprechen ein. Mehr vom Inneren des Klaviers herausspielen, nennt es Hersch.

Inwieweit die Hörer dieser CD seinen finalen Winter Of My Discontent wörtlich nehmen, mögen sie als Hörende selbst herausfinden: Silent.Listening.

08.05.2025

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Fado – Ausfahrt Bottrop, A 42

Boa noite! Que bom que você veio hoje! Ich freue mich, wieder im Ruhrgebiet zu sein. Ausfahrt Bottrop, A 42. Temperatmentvoll entert Telmo Pires, einer der wenigen männlichen Vertreter der zeitgenössischen Fado-Szene, die Bühne des Ebertbads in Oberhausen. Mit Rui Poço (Portugiesische Gitarre), Miguel Silva (Klassische Gitarre) und Yami Aloelela (E-Bass) folgt er in mehr als zwei Stunden seiner Fado-Spur: Através do Fado. 1952 in Nord-Portugal geboren, zieht seine Familie wenige Jahre später ins Ruhrgebiet. Er wächst dort zweisprachig auf. Macht am Heinrich-Heine-Gymnasium in Bottrop das Abitur. Gesangs- und Schauspielausbildung führen ihn zu seinen portugiesischen Wurzeln zurück. Dem Fado, einer über Jahrhunderte gewachsene Kultur, einem Lebensgefühl, getragen von arabischen Elementen, vielen Tonhöhensprüngen, bevorzugt in Moll, widmet er sich als Fadista mit Überzeugung.

Dass der Fado mehr ist als nur wehmütige Klage, die sich im Weltschmerz (Saudade) verzehrt, unterstreicht er mit kulturell konnotierten Reflexionen, einleitend und zwischen seinen Gesängen mit Emphase. Fado zu singen bedeutet für ihn im heutigen Sinne, ein soziales Medium zu bedienen und zu nutzen. Pires Liedtexte setzen Beziehung zu den Lebensbedingungen in der portugiesischen Diktatur, die von 1932 bis 1974 andauerte. Wenige Tage vor dem Konzert wurde die Erinnerung an die Befreiung von ihr vor 50 Jahren durch die inzwischen zu einem charismatisch aufgeladenen Symbol gewordene Nelkenrevolution zu einem die Gesellschaft beherrschenden Gefühl.

Eine Diktatur kann vieles verbieten, allein die Liebe nicht. Der Fado wurde für die vielen Analphabeten so während dieser Zwangsherrschaft zu einer Zeitung. Sie konnten sie nicht lesen, aber hören, singen und tanzen. Ich komme nicht aus dem Fado, beteuert Pires. Der Fado ist mit seiner Mutter, vor allem mit seiner Großmutter zu ihm zurückgekommen. Mit Morena singt er eine Hommage an sie und ein Bekenntnis zur Kraft des Fado überhaupt.

Mutter, ich besinge die Nacht, weil mich der Tag enttäuscht. Das Schicksalhafte des Fado prägt seine Performance von Gesang, Tanz und Erzählung. Wie seinen Müttern ist er dem großartigen Lehrmeister und Fadista Carlos do Carmo (1939-2021) verpflichtet. Fado, Credo und Plädoyer für ein freies Leben und unbedingte Liebe, zelebriert Pires kultiviert und sportiv zugleich. Klug in der Reflexion der kulturellen Kontexte, geschmeidig biegsam in seiner männlichen Körperhaftigkeit.

Pires zieht die Zuhörer – Die überwiegende Mehrheit sind Zuhörerinnen! – nicht nur mit seinem authentischen Gesang in den Bann. Es sind mitunter Anekdoten, die mit Witz und Ironie spielen, aber einen Kern freilegen, als würde man einen Apfel schälen. Dass in deutschen Supermärkten das Sortiment an portugiesischen Weinen eher klein ist, hat, so Pires, einen einfachen Grund: Wir exportieren wenig. Wir trinken ihn selbst. Somit gut gelaunt, singt man traurige Lieder.

Die dem Fado eigene Traurigkeitsmelodik grundiert entsprechend Pires‘ Gesang. Gleichzeitig überwiegt in ihm die Hoffnung, dass Liebe in Frieden alles Begrenzende überwinden kann. Er schüttet Füllhörner von Glückshormonen aus.

Davon könnte es noch mehr geben, wenn die Musiker an seiner Seite mehr die Chance hätten oder einforderten, seine narrative Performance mitzugestalten. Pires‘ Erklärung zu Beginn des Konzerts, sie würden von seinen Erzählungen kein Wort Deutsch verstehen, macht sie zu einer Staffage allein professionell spielender Musiker. Schwer zu sagen, wie sich das für sie anfühlt.

05.05.24
photo streaming Telmo Pires

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Klangfreiheit in einer Architektur der Freiheit

Jazz-Musik ist weltweit einen langen Weg gegangen. Von den Ursprüngen einer liturgisch inspirierten Gospel-Musik in den Kirchen der amerikanischen schwarzen Ghettos ist sie über dunkle Kneipen nach 100 Jahren längst in Konzertsälen angekommen. Mit dem Konzert des Michael Wollny Trios in der Christuskirche Bochum schließt sich dieser Kreis auf selbstverständliche Weise. Der Aufstieg aus den düsteren Jazz-Kellern nach oben ins klassisch getönte Licht ist unübersehbar wie auch unüberhörbar. Aber, und das ist das Besondere am Jazz, er ist nach wie vor in vielen Räumen zuhause.

Die Architektur der Freiheit, die der Christuskirche Bochum vielfach zugeschrieben worden ist, übersetzt Michael Wollny mit Tim Lefebre (b) und Eric Schäfer (dr) in eine außerordentliche Klangfreiheit. In zwei Sets von jeweils 40 Minuten entwickeln sie einen Sound, der keine elektronische Aufrüstung braucht. Das reine Klavier, der Klassik-Kontrabass, das Schlagzeug pur. Spannungsreiche Harmonik verbunden mit klassischen Musik-Formaten bestimmt ihr gemeinsames Spiel, das auf Arrangements von Jazz-Standards und Eigenkompositionen aufbaut. Dass sie sich frühzeitig mit zeitgenössischer Musik und Improvisation auseinandergesetzt haben, ist mit jeder musikalischen Idee, die vor allem auf Wollnys Kreativität gründet, hörbar sowie mitunter körperlich spürbar.

Wollny, schon 2015 in Paris als bester europäischer Jazzmusiker von Lacadémie du Jazz ausgezeichnet, hat vielfach bekannt, dass er Musik aus dem Moment heraus spielt. Die ihm von der Kritik zugeschriebenen Elogen – The most exciting piano trio in Europe (The Times) oder Der vollkommene Klaviermeister (FAZ) – ließen sich mit dem Konzert in Bochum auf der Klaviatur der Superlative weiterschreiben.

Mit dem von einem mystischen Zen-Buddhismus umflorten Schaefer an den Drums und mit Lefebvre – für Wollny einer der weltbesten Bassisten, der immer mit einem Fuß in der Welt des Soundprocessing stehe – hat er kongeniale Partner an seiner Seite. In der Bochumer Kirche der Kulturen, wie sie sich selbst als Begegnungsort verschiedener Musiken versteht, inszeniert das Trio eine musikalische Performance, die natürlich und selbstverständlich einnimmt. Sie folgt keiner Dramaturgie, die um die Zuneigung des Publikums buhlen müsste. Aus der Vielfalt der Ideen generieren sich situativ in einzelnen Konzertmomenten Wollnys Kompositionen zu einem Ping-Pong-Notenblatt-Spiel.

Eine Performance, von Wollny gestisch angezeigt, die sich in Improvisations-Kaskaden zu einem enigmatischen Soundkosmos verdichtet. Und sich umstandslos in elegischen Phrasierungen öffnet. Vehement fegt die rechte Hand über die Klaviatur, während er mit der linken in die Klaviersaiten greift. Aufgeladen mit gebrochenen Akkorden, stürmt das Trio energisch vorwärts, kulminiert, beruhigt fast übergangslos, in volksliedhafter Poesie. Oder im Stil der Gymnopédies von Erik Satie schwelgend, schwingt der Sound, gleichsam frei beseelt, im Raum. Ein Spiel, das dem Kontrollverlust einen Hörraum gibt, um sich in dem Moment von den musikalischen Expeditionen der drei Musiker  heimsuchen zu lassen.

Das Michael Wollny Trio beatmet Klangräume in allen Dimensionen als freies Improvisieren verbunden mit liedhaften und klassischen Referenzen. Sie klangmalen poetisch, wie sie den Kanon von Klassik, Jazz und Volksmusik aufmischen. Die Konzertbesucher sind sehr einverstanden mit diesen Soundabenteuern.

30.04.24
photo streaming Michael Wollny Trio

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Eine Wiederaufnahme, die ihren Kultstatus referenziert

Barrie Kosky (Jahrgang 1967) gehört zu den interessantesten Opernregisseuren seiner Generation. Als kreativer Künstler mit dem Image eines Agent Provocateur lassen seine Inszenierungen nichts aus. Sie können verstören, von der Kritik verrissen, vom Publikum abgelehnt werden. Sie sind immer ein Ereignis, das Spuren hinterlässt.

Diese Spur zieht sich von der Komischen Oper Berlin, wo er von 2012 bis zum letzten Jahr Intendant und Chefregisseur war, über das Opernhaus Zürich, die Bayreuther Festspiele bis ans Aalto Musiktheater Essen. Seine Essener Wagner-Inszenierung Tristan und Isolde von 2006 gilt inzwischen als Referenzinszenierung mit Kultstatus. Jetzt gibt es eine bemerkenswerte Wiederaufnahme mit Catherine Foster und Bryan Register, aufauthentische in Szene gesetzt von Marijke Malitius.

Unter der musikalischen Leitung von GMD Andrea Sanguineti ist mit den Essener Philharmonikern und dem Opernchor des Aalto-Theater (von Klaas-Jan de Groot situativ vom 1.Rang gut vorbereitet) ein Revival zu erleben, das so frisch und überzeugend wie vor 18 Jahren für sich einnimmt. Unüberhörbar Richard WagnerEs ist der Gipfel meiner bisherigen Kunst – in exquisiter Hör-Qualitätshöhe die Interpretation von Kosky – Tristan und Isolde ist eine Fuge der Sinne.

Mit Tristan und Isolde hat Wagner eine Zäsur in der Musikgeschichte gesetzt, die ihre Wirkung bis heute zeitigt. Nicht nur, weil seine kompositorische Motiv-Technik hier in besonderer Weise zu einer tiefen Emotionalität führt. Mit Tristan und Isolde machte er seine Liebe zu Mathilde Wesendonck öffentlich. Auch zu einem öffentlichen Spektakel.

Denn Wagner wäre nicht Wagner, wenn er nicht mitunter auf geradezu diabolische Art und Weise bereit gewesen wäre, Vertrauen und Liebe zu ihm nahestehenden Menschen seiner Überzeugung vom eigenen Genie zu opfern. Nicht zuletzt aus den damit verbundenen physischen und psychischen Verwundungen, ihren emotionalen Fallhöhen, beziehen seine Opern eine suggestive Transzendenz, der man sich beim Hören kaum entziehen kann.

Kosky hat sich von Klaus Grünberg eine Guckkastenbühne bauen lassen. Wenn zu den Paar-Konstellationen von Isolde und Brangäne oder Isolde und Tristan weitere Akteure (Kurwenal, Melot, Marke) hinzukommen, wird der Raum eng. Es ist, als würde er aus allen Nähten platzen und den Menschen die Luft zum Atmen nehmen. Die Inszenierung fokussiert und distanziert gleichermassen. Dem Auge bieten sich aufgrund eines fehlenden weiten Bühnengrunds kaum Ablenkungsmöglichkeiten. Das Hören bietet keine Chance, sich zu ver-hören. Der Guckkasten fokussiert alle Aufmerksamkeit. Die räumliche Kleinheit fordert Konzentration im hohen Maße. Andererseits wird durch die kleine Bühne auf der großen Bühne eine raumgreifend ausschweifende Identifikation mit Wagners Musikdrama kreativ unterlaufen.

Catherine Foster bietet als Isolde ein der Komposition würdiges kongeniales Erlebnis. Getragen von dramatisch gestaltetem Sopran, der durch alle Höhen und Tiefen scheinbar mühelos ausdrucksvoll auf- und absteigt, sowie einem leidenschaftlich inspirierenden Spiel mit einer überwältigenden Bühnenpräsenz. Die Foster, die Wagner-Sängerin unserer Zeit.

Neben diesem Monument zu bestehen, ist für alle Sänger auf allen Bühnen eine Herausforderung. Register nimmt sie mit Respekt im ersten Akt an. Sein lyrischer Tenor befindet sich teilweise noch im Modus des Suchens. Viel Kraftaufwand, wo mitunter weniger mehr wäre. Im zentralen Liebesduett des zweiten Aktes mit Foster verliert sich seine Artikulation passagenweise in den Ecken des sich drehenden Guckkastens.

Alles ist in Bewegung, nichts mehr an seinem angestammten Platz, oben und unten vertauscht, auf den Kopf gestellt. Oh, süße Nacht! Ew’ge Nacht! Hehr erhab’ne Liebes-Nacht! Eine exzellente Koinzidenz der musik-dramatischen Perspektive von Gesang und Bewegung, die die Zuhörer unwillkürlich in Trance versetzt. Mit König Markes Auftritt (Sebastian Pilgrim mit wortdeutlichem, gelegentlich untertourigem Bass)bleibtdie Bühne nach einer und einer halben Umdrehung kopfüber stehen. No exit! Der nachtverschattete Tristan-Isolde-Raum ist nicht mehr von dieser Welt.

Koskys Inszenierung räumt der Mezzosopranistin Bettina Ranch als Brangäne sowie dem Bariton Heiko Trinsinger als Kurwenal viel Platz zur Rollengestaltung ein. Beide überzeugen in diesem Setting stimmlich und spielerisch. Ranchs Mezzosopran hat ein tief sattes, dunkles Timbre. Wachet auf! Schon weicht dem Tag die Nacht! Als Brangäne mahnt sie Isolde nicht nur zur Vorsicht, sondern reagiert für Isolde dort, wo jene den Überblick verliert. Ähnlich vereinigt Trinsingers Bariton einen kraftvollen und zugleich lyrischen Ton.

Mit Fosters beseelt gesungenem Liebestod-Solo setzt die Inszenierung einen nachdenklichen Schlussakkord. Nach Ende des Solos steht Isolde auf und legt sich zum sterbenden Tristan. Mit dem Verlassen des Wolken-Kuckucksheim des Guckkastens ist eine Liebe unter den gegebenen Umständen nicht mehr möglich, nicht mehr lebensfähig. Die Zukunftshoffnung signalisierenden Lämmer sind schon vorher von verschatteten (Hirten-?) Figuren von der Lebens-Bühne abgeräumt worden.

Dass der Applaus für Foster alle anderen um Phon-Stärken übertönt, war zu erwarten. Dass sie ihren Bühnenpartner Register bei den mehrfachen Vorhängen keines Blickes würdigt, hinterlässt einen nachdenklich fragenden Eindruck.

29.04.24  

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Noch immer die gleiche Frisur

Die Bühne im Schauspielhaus Bochum ist offen. Im hellen Bühnenlicht sind mehrere leere Bettgestelle zu sehen. Über ihnen Screens, die mit ihren schwarzen Flächen dunkel die Rückwand kontrastieren. Nicht gerade ein Wohnzimmer, raunt eine Besucherin im Parkett ihrer Nachbarin zu.

Es ist wenige Minuten vor 20 Uhr, und die Aufführung Die kahle Sängerin von Eugène Ionesco hat offiziell noch nicht wirklich begonnen. Als es dann losgeht, haben Mr. und Mrs. Smith schon lange in der ersten Reihe gesessen. Sind von Anfang mit den Theaterbesuchern Teil der Inszenierung von Johan Simons. Ob sie die genannte Bemerkung im Parkett gehört haben, muss unbeantwortet bleiben. Aber dass das, was sich in den nächsten 90 Minuten abspielt, nicht nur eine Lachsalven befeuernde Komödie ist, die man sich, in die Sitzpolster gelehnt, amüsiert betrachtet, klärt sich sehr schnell.

Simons hat die clownesk märchenhaft spielende Dienerin mit Konstantin Bühler und den Feuerwehrmann alias Feuerwehrfrau mit der eher zierlichen Danai Chatzipetrou sowie Mrs. Smith mit der farbigen Niederländerin Stacyian Jackson besetzt. Dies kann als eine Option in der zurzeit kontrovers geführten Debatte um queere Identitäten gesehen werden. Muss nicht, passt aber in die Debattenkultur.

Jackson erhebt sich, gekleidet mit einem roten tief dekolletierten Abendkleid mit einer langen Schleppe aus der ersten Parkettreihe. Genüsslich schlürft sie ein Eis. Schaut selbstbewusst kokettierend ins Publikum. Stefan Hunstein (Mr. Smith) gestikuliert, noch sitzend, mit dem Versuch, dem Verhalten seiner Frau Einhalt zu gebieten. Doch von Anfang an ist klar, dass er mit seiner normierten Männlichkeit gegen sie keine Chance hat.

Mrs. Smith spielt Jackson spielt in der Rolle einer antiken Hetäre souverän auf der Klaviatur erotisch kategorischer Selbstinszenierung, die Mr. Smith am Nasenring als Hampelmann durch Szenen schleift. Geschminkt mit einen gestutzten Schnurrbart und langen wirr grauen Haaren, assoziiert dieser die Figur eines aus der Zeit gefallenen Diktators. Handgreiflich ihn mit ihrer Schleppe schlagend, treibt Mrs. Smith ihn vorwärts. Später wird sie, als die Screens verschiedene, vorwärts und rückwärts laufende Zeit zeigen, sagen: Die Uhren gehen alle falsch. Sie zeigen immer das Gegenteil.

Ionescos Theaterstück, von ihm als Anti-Stück bezeichnet, hinterfragt die Konventionen des Theaters nach den Schrecknissen des Zweiten Weltkriegs. Eine Tragödie der Sprache wird sprachmächtig. Omnipräsente, fatale Alltagsgeschwätzigkeit wird zum ideologischen Akteur. Hinter der Wortleichen produzierenden Kakophonie werden Tragödien des Menschlichen sichtbar. Sprache ist immer verräterisch. Entleert durch Plattitüden, rhetorische Worthülsen und Gemeinplätze, wird die Sprache für Ionesco zum Ekel einer unnennbaren Traurigkeit.

Der Abend bei den Smiths kreist in eintöniger Banalität. Beginnend mit Jacksons Monolog über die Qualitäten des Salatöls verschiedener Läden bei ihnen um die Ecke, reagiert Hunstein mit seinen vergeblichen Versuchen, auch etwas zum Gespräch beizutragen. Sie reden aneinander vorbei, sie streiten um Bagatellen und versöhnen sich: Warum gibt man bei den standesamtlichen Nachrichten in der Zeitung immer nur das Alter der Toten und nie das Alter der Neugeborenen an? Mrs. Smith macht mit jedem Satz, mit jedem Gestus ihren Ehemann zu einem lächerlichen Popanz. Jener verbiegt sich in hilflosen Posen. Er bedauert sich selbst, ohne einen Ausweg zu finden.

Dass Simons das Stück vor dem Hintergrund der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft mit ihren im Raum stehenden Fragen nach Schuld und Unschuld, von richtig oder falsch, von Liebe und Schmerz inszeniert und gleichzeitig das Heute reflektiert, unterstreichen disparate Screen-Einblendungen. Keine gemütlich biedere Wohnzimmerkulisse, sondern das Krankenlager einer ermüdeten Gesellschaft.

Die tickenden, irrlichternden Uhrzeiten wechseln mit Werbespots der 1950/60er Jahre, unterlegt mit französischen Chanson-Liedchen sowie Sekunden-Bildrauschen und flackernden Bildern von Kriegsbombern. Werbe-Botschaften, wie Zucker zaubert, das Hohelied von der Persil-Reinigungskraft oder das mit Afri Cola, der tote Punkt überwunden werden könne, die ähnlich absurd sind, wie die Gespräche, zeigen biedere Hausfrauenseligkeit.

Mit dem verspäteten Eintreffen von Mrs. und Mr. Martin (Jele Brückner und Marius Huth) reflektiert Simons die Perspektive eines spät-dadaistischen Spektakels. Die Wanduhr dreht sich vorwärts und rückwärts. Chronos, die gemessene Zeit, verliert sich als Kairos sinnentleert in nämlichem Werbe-Sprech. Brückner und Huth spielen in bester Slapstick-Manier in minutenlangen Variationen – Sonderbar! Aber möglich! Aber dann…!…? – sich selbst als das Paar, das sie schon seit Jahren sind. Vergessen wir alles, Cherie, was zwischen uns nicht gewesen ist … und leben wir wie zuvor. Brückner charakterisiert Mrs. Martin als Überraschungspaket ihrer selbst mit verschwörerischem, unbedarftem Liebreiz. Energische Kehrtwenden in verschwenderischem Selbstbewusstsein eingeschlossen. Huth gibt die meinungsselige Überraschung seiner selbst.

Mit dem Feuerwehrmann steigern sich die wortreichen Belanglosigkeiten in XXL-Formate von Anekdoten. Das Absurde vergreift sich am Surrealen. Siebenmal hintereinander der nichtssagende Satz: Es ist nicht dort, es ist da! Alle sind vom Schnupfen infiziert. Chatzipetrou, als ordentliche Servicekraft des Gemeinwesens für Brandlöschung jeder Art zuständig, sieht sich unversehens einem ganzen anderen Brandherd gegenüber. Mit dem von ihr dadaistisch verwirrend vorgetragenen Familienstammbaum-Gedicht Der Schnupfen verabschiedet sich Chatzipetrou von dieser mediokeren Gesellschaft. Übrigens, wie geht es der kahlen Sängerin? Sie trägt immer noch die gleiche Frisur!, rettet Mr. Smith das beredte Schweigen mit absurder Noblesse.

Eigentlich ist damit alles gesagt, was Ionesco mitder kahlen Sängerin erzählt. Am Ende steht alles wieder auf Anfang. Sein Wortleichen-Kontext ist immer noch ganz von dieser Welt. Die Kahle Sängerin, Ionescos analytische Reflexion über die Sinnfreiheit und Orientierungslosigkeit der Welt, von Simons in grotesk-komische und irreale Szenen übersetzt (Dramaturgie: Leonie Adam), wird vom Premieren-Publikum in Bochum enthusiastisch gefeiert. Versteckt sich hinter dem lauten Beifall vielleicht auch eine eigene, stille Betroffenheit?

28.04.24

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Harlekinade mit verkehrten Vorzeichen

Gibt es sie tatsächlich noch oder nicht mehr? Oder ist die viel beschworene Natürlichkeit nur eine Phantasmagorie? Jean-Jacques Rousseaus aufklärerischer Weckruf – Zurück zur Natur! -, so zwar nicht wörtlich in Émile, ou De l’éducation formuliert, bringt allerdings auf den Punkt, was ihmwichtig ist. Dass der vermeintliche zivilisatorische Fortschritt einhergeht mit zunehmender sozialer Ungleichheit und mit einem Rückschritt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt verbunden ist.

Ich, Antonin Artaud – Der wilde Harlekin als Teil 3 des Rausch-Spektakel am Theater an der Ruhr in Mülheim assoziiert nach Louis-François Delisle de la Drevetière (nach einem vergessenen Erfolgsstück der Frühaufklärung, uraufgeführt 1721 in der Pariser Comédie Italienne) und einer Übersetzung und Bearbeitung durch Leopold von Verschuer das Bild Rousseaus einer von Kultur und Zivilisation unverdorbenen Natur und den Folgen. Antonin Artaud (1896 – 1948) entwickelt im Kontext von André Bretons Manifest des Surrealismus ein Theater der Grausamkeit. Text, Sprache und Bewegung treten suggestiv in den Hintergrund. Das Spektakel als Kern der Inszenierung rückt in den Vordergrund.

In diesen Tagen eröffnet die 60.Biennale in Venedig unter dem Motto Foreigners Everywhere, übersetzt als Ausländer überall. Adriano Pedrosa, Brasilianer und erster Südamerikaner als künstlerischer Leiter der Biennale formuliert als Motto der Hauptausstellung Stranieri ovunque. Fremde überall. Nur eine Verschiebung von Nuancen der Übersetzung?

Roberto Ciulli sagt es in der sich an die Vorstellung anschließenden Gesprächsrunde grundsätzlicher: Menschsein heißt immer Fremdsein. Am Schluss seiner Inszenierung plädiert er für die magischen Momente, die dem Theater eigen seien. Leopold von Verschuer erzählt dazu eine eigene Fremdheitsgeschichte. Auf einer französischen Bühne versteckt sich der französischen Text ihm, dem Schauspieler für Momente in seiner deutschen Version. Das Fremde und das Eigene überscheiden sich.

Artaud, den Bernhard Glose mit geschmeidiger wie konsequenter Stringenz wechselweise auch als Harlekin spielt, öffnet mit ersten fragmentierten Textpassagen den Reflexionsraum für die nächsten 90 Minuten. Er will in die schöne, von Kolonisatoren beschworene Welt der Zivilisation nicht einsteigen: Ich will aussteigen. Die Zivilisation erweist sich als hinterlistiges, letztendlich falsches Glücksversprechen.

Die Harlekinade dreht in der Dramaturgie von Helmut Schäfer ihre Perpektive. Der wilde Harlekin beschwört das Menetekel des Fremden. Nicht er, der eher sanftmütige, die Zweckhaftigkeit der zivilisatorischen staunend naiv hinterfragende Naturbursche ist ein Wilder. Die barock pompöse Eroberungsgesellschaft schlingert in grotesk verzerrter Selbstsicherheit in eine Defensive, die weder lieben, noch verstehen kann. Außer wenn es um Handel und Bürgschaft geht. Aber auch das ist nur eine scheinbar Halt gebende Krücke.

Die Angebote des Händlers (Klaus Herzog mit dummdreisten Attitüden großmächtiger Verzweiflung) suggeriert dem sogenannten Wilden ein Haben als Glück per se. Es gibt Arme und Reiche. Die haben Geld und die anderen müssen arbeiten, um Geld zu bekommen. Und was machen die Reichen? – Die schlafen.

Haben, haben, memoriert der Umworbene unverhohlen sarkastisch – und verkehrt das Händlerspiel. Ähnlich dreht er zusammen mit seiner aus dem Stand gewonnenen Liebe, dem Dienstmädchen Violetta (Maria Schulte-Werning mit überzeugender Empathie für ihre Chance, ihrer Herrschaft eine Nase zu drehen) eine mobile Liebesnest-Bühne. Während leise Je t’aime … moi non plus, das charismatisch erotisch flimmernde Duett von Serge Gainsbourg mit Jane Birkin von 1969 zu hören ist, quetschen sich Pantalone und Flaminia als Selbstgefangene mit sehnsüchtiger Begierde in ihre Sänfte.

Starr steif staunt die Gesellschaft, wie Violetta und Harlekin alles in Bewegung bringen. Albert Bork zittert in Selbstdressur, wie sich Dagmar Gepperts Lippen erschrocken an die Scheibe kleben. Eingeleitet von einem balzenden, höfischen Tanz der rivalisierenden, später sich gegenseitig als Verlierer entlarvenden Joshua Zilinske, als Mario rauscht elegant stolpernd über die Bühne, wie der Lelio von Fabio Menéndez, triumphalisch gestikulierend, auch nur zweiter Gewinner ist.

Während Harlekin über die menschliche Vernunft räsoniert – und fast beiläufig Immanuel Kant zu seinem 300.Geburtstag am 22.April (Datum dieser Veröffentlichung!) mit der Frage: Wer ist der Mensch? auf den Plan ruft – und feststellt, dass das Leben dort stattfindet, wo auch Scheiße zu riechen ist. Die Artaud begleitende Mademoiselle (Maria Neumann überwiegend in einer schauspielerisch undankbaren Rolle der Beobachtenden): Wir stecken tief in der Sch…..öpfung.

Die finale Arabeske, dass es auch einmal eine Zeit gab, wo Menschen wie ein Baum waren. Fest in der Erde verwurzelt, empor wachsend in der gewissen Versicherung von reichlich Licht und Wasser, öffnet Ciullis Inszenierung magische, philosophisch konnotierte, gleichwohl lebenspralle Assoziationsräume, die weit über die Aufführung hinaus weisen.

Sie in ihrer magischen Kraft für das eigene Leben zu entdecken, bleibt dem Theaterbesucher selbst überlassen. Wage zu wissen! (Sapere aude!) Kants Begriff von Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit spurt mit Ich, Antonin Artaud – Der wilde Harlekin ohne philosophisch moralinsauen Aplomb eine bildmächtige, inspirierende Schneise ins Heute.

Anekdotischer Nachtrag:

Im Foyer wuselt vor Vorstellungsbeginn ein etwa 10jähriger Schüler ungestüm durch die Reihen des überwiegend älteren Publikums. Einige Männer haben ihren ergrauten, schütteren Haaren noch ein Zöpfchen abgetrotzt. Andere tragen es schulterlang. Eine Dame gleichen Alters antichambriert sogar mit vier sorgfältig geflochtenen Zöpfen. Sind die in die Jahre gekommenen Bezopften und Langhaarigen die Zivilisierten der Vergangenheit? In welche zivilisatorische Zukunft läuft der mit wildem Eifer hin und her laufende Junge?

22.04.2024

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