Die Bühne im Schauspielhaus Bochum ist offen. Im hellen Bühnenlicht sind mehrere leere Bettgestelle zu sehen. Über ihnen Screens, die mit ihren schwarzen Flächen dunkel die Rückwand kontrastieren. Nicht gerade ein Wohnzimmer, raunt eine Besucherin im Parkett ihrer Nachbarin zu.
Es ist wenige Minuten vor 20 Uhr, und die Aufführung Die kahle Sängerin von Eugène Ionesco hat offiziell noch nicht wirklich begonnen. Als es dann losgeht, haben Mr. und Mrs. Smith schon lange in der ersten Reihe gesessen. Sind von Anfang mit den Theaterbesuchern Teil der Inszenierung von Johan Simons. Ob sie die genannte Bemerkung im Parkett gehört haben, muss unbeantwortet bleiben. Aber dass das, was sich in den nächsten 90 Minuten abspielt, nicht nur eine Lachsalven befeuernde Komödie ist, die man sich, in die Sitzpolster gelehnt, amüsiert betrachtet, klärt sich sehr schnell.
Simons hat die clownesk märchenhaft spielende Dienerin mit Konstantin Bühler und den Feuerwehrmann alias Feuerwehrfrau mit der eher zierlichen Danai Chatzipetrou sowie Mrs. Smith mit der farbigen Niederländerin Stacyian Jackson besetzt. Dies kann als eine Option in der zurzeit kontrovers geführten Debatte um queere Identitäten gesehen werden. Muss nicht, passt aber in die Debattenkultur.
Jackson erhebt sich, gekleidet mit einem roten tief dekolletierten Abendkleid mit einer langen Schleppe aus der ersten Parkettreihe. Genüsslich schlürft sie ein Eis. Schaut selbstbewusst kokettierend ins Publikum. Stefan Hunstein (Mr. Smith) gestikuliert, noch sitzend, mit dem Versuch, dem Verhalten seiner Frau Einhalt zu gebieten. Doch von Anfang an ist klar, dass er mit seiner normierten Männlichkeit gegen sie keine Chance hat.
Mrs. Smith spielt Jackson spielt in der Rolle einer antiken Hetäre souverän auf der Klaviatur erotisch kategorischer Selbstinszenierung, die Mr. Smith am Nasenring als Hampelmann durch Szenen schleift. Geschminkt mit einen gestutzten Schnurrbart und langen wirr grauen Haaren, assoziiert dieser die Figur eines aus der Zeit gefallenen Diktators. Handgreiflich ihn mit ihrer Schleppe schlagend, treibt Mrs. Smith ihn vorwärts. Später wird sie, als die Screens verschiedene, vorwärts und rückwärts laufende Zeit zeigen, sagen: Die Uhren gehen alle falsch. Sie zeigen immer das Gegenteil.
Ionescos Theaterstück, von ihm als Anti-Stück bezeichnet, hinterfragt die Konventionen des Theaters nach den Schrecknissen des Zweiten Weltkriegs. Eine Tragödie der Sprache wird sprachmächtig. Omnipräsente, fatale Alltagsgeschwätzigkeit wird zum ideologischen Akteur. Hinter der Wortleichen produzierenden Kakophonie werden Tragödien des Menschlichen sichtbar. Sprache ist immer verräterisch. Entleert durch Plattitüden, rhetorische Worthülsen und Gemeinplätze, wird die Sprache für Ionesco zum Ekel einer unnennbaren Traurigkeit.
Der Abend bei den Smiths kreist in eintöniger Banalität. Beginnend mit Jacksons Monolog über die Qualitäten des Salatöls verschiedener Läden bei ihnen um die Ecke, reagiert Hunstein mit seinen vergeblichen Versuchen, auch etwas zum Gespräch beizutragen. Sie reden aneinander vorbei, sie streiten um Bagatellen und versöhnen sich: Warum gibt man bei den standesamtlichen Nachrichten in der Zeitung immer nur das Alter der Toten und nie das Alter der Neugeborenen an? Mrs. Smith macht mit jedem Satz, mit jedem Gestus ihren Ehemann zu einem lächerlichen Popanz. Jener verbiegt sich in hilflosen Posen. Er bedauert sich selbst, ohne einen Ausweg zu finden.
Dass Simons das Stück vor dem Hintergrund der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft mit ihren im Raum stehenden Fragen nach Schuld und Unschuld, von richtig oder falsch, von Liebe und Schmerz inszeniert und gleichzeitig das Heute reflektiert, unterstreichen disparate Screen-Einblendungen. Keine gemütlich biedere Wohnzimmerkulisse, sondern das Krankenlager einer ermüdeten Gesellschaft.
Die tickenden, irrlichternden Uhrzeiten wechseln mit Werbespots der 1950/60er Jahre, unterlegt mit französischen Chanson-Liedchen sowie Sekunden-Bildrauschen und flackernden Bildern von Kriegsbombern. Werbe-Botschaften, wie Zucker zaubert, das Hohelied von der Persil-Reinigungskraft oder das mit Afri Cola, der tote Punkt überwunden werden könne, die ähnlich absurd sind, wie die Gespräche, zeigen biedere Hausfrauenseligkeit.
Mit dem verspäteten Eintreffen von Mrs. und Mr. Martin (Jele Brückner und Marius Huth) reflektiert Simons die Perspektive eines spät-dadaistischen Spektakels. Die Wanduhr dreht sich vorwärts und rückwärts. Chronos, die gemessene Zeit, verliert sich als Kairos sinnentleert in nämlichem Werbe-Sprech. Brückner und Huth spielen in bester Slapstick-Manier in minutenlangen Variationen – Sonderbar! Aber möglich! Aber dann…!…? – sich selbst als das Paar, das sie schon seit Jahren sind. Vergessen wir alles, Cherie, was zwischen uns nicht gewesen ist … und leben wir wie zuvor. Brückner charakterisiert Mrs. Martin als Überraschungspaket ihrer selbst mit verschwörerischem, unbedarftem Liebreiz. Energische Kehrtwenden in verschwenderischem Selbstbewusstsein eingeschlossen. Huth gibt die meinungsselige Überraschung seiner selbst.
Mit dem Feuerwehrmann steigern sich die wortreichen Belanglosigkeiten in XXL-Formate von Anekdoten. Das Absurde vergreift sich am Surrealen. Siebenmal hintereinander der nichtssagende Satz: Es ist nicht dort, es ist da! Alle sind vom Schnupfen infiziert. Chatzipetrou, als ordentliche Servicekraft des Gemeinwesens für Brandlöschung jeder Art zuständig, sieht sich unversehens einem ganzen anderen Brandherd gegenüber. Mit dem von ihr dadaistisch verwirrend vorgetragenen Familienstammbaum-Gedicht Der Schnupfen verabschiedet sich Chatzipetrou von dieser mediokeren Gesellschaft. Übrigens, wie geht es der kahlen Sängerin? Sie trägt immer noch die gleiche Frisur!, rettet Mr. Smith das beredte Schweigen mit absurder Noblesse.
Eigentlich ist damit alles gesagt, was Ionesco mitder kahlen Sängerin erzählt. Am Ende steht alles wieder auf Anfang. Sein Wortleichen-Kontext ist immer noch ganz von dieser Welt. Die Kahle Sängerin, Ionescos analytische Reflexion über die Sinnfreiheit und Orientierungslosigkeit der Welt, von Simons in grotesk-komische und irreale Szenen übersetzt (Dramaturgie: Leonie Adam), wird vom Premieren-Publikum in Bochum enthusiastisch gefeiert. Versteckt sich hinter dem lauten Beifall vielleicht auch eine eigene, stille Betroffenheit?
28.04.24
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