Das Phänomen Blomstedt

Herbert Blomstedt (Jahrgang 1927) ist ein Phänomen in jeglicher Hinsicht. Nach einem Sturz im letzten Jahr in seiner Bewegung eingeschränkt, erleben die Konzertbesucher im Konzerthaus Dortmund einen hellwachen, geistig frischen Dirigenten mit einer klaren Mission, nämlich mit respektabler Partiturgenauigkeit und analytischer Präzision Musik zu verlebendigen.

Begleitet von der 1.Konzertmeisterin des Chamber Orchestra of Europe betritt er die Bühne, setzt sich auf einen Klavierhocker, versinkt für einen kurzen Moment mit gestrafftem Oberkörper in zen-buddhistischer Konzentration. Von da an beginnt ein beinahe ungläubiges Staunen im Publikum, wie Blomstedt sehr unterschiedlichen Kompositionen feinsinnig nachspürt. Zu Beginn die selten zu hörende Sinfonie Nr. 4 Es-Dur »Naïve« seines Landsmannes Franz Berwald (1796 – 1868), dann mit der Sinfonie Nr. 3 a-moll op. 56 »Schottische« von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) eines der am häufigsten aufgeführten Konzerte. Komponisten einer Generation, die nach der Wiener Klassik für ein romantisches Klangbild unterschiedlicher Prägung stehen. Nordisch geprägt, einerseits von der heimatlichen Landschaft (Berwald), andererseits von faszinierenden Reiseeindrücken (Mendelssohn Bartholdy).

Seit einigen Jahren erleben vor allem die Sinfonien von Berwald eine Renaissance im hiesigen Konzertleben. Blomstedt ist dafür ein wesentlicher Protagonist. Seiner Interpretation der 4.Sinfonie ist anzumerken, dass es ihm eine Herzensangelegenheit ist, sie zu spielen. Insbesondere die Holzbläser Oboe, Flöte und Fagott gestalten das romantisch sprudelnde Atmosphärische nachhaltig.

Wie intensiv er sich mit dem Werk auseinandergesetzt hat, kann man daran erkennen, dass die auf dem Pult geöffnete Berwald-Partitur nicht gebraucht wird. Die von ihr ausgehende Inspiration wirkt, als genügte ihm der in ihr enthaltene Atem Bergwalds. Das ist insofern bemerkenswert, da der Dirigent anschließend die oft gespielte Sinfonie von Mendelssohn Bartholdy mit der Blatt für Blatt umgewendete Partitur dirigiert. Ernsthaftigkeit in Respekt für die Werktreue in unterschiedlicher Form.

Beeindruckt von der schottischen Landschaft und ihrer tragischen Maria-Stuart-Geschichte, ist die Schottische nach der Pause dennoch keine Programmmusik. Die Sinfonie, ist traditionell im 4-sätzigen Muster komponiert und ohne Pausen konsequent durchzuspielen. Herbert Blomstedt vermeidet im Sinne Mendelssohn Bartholdys hier übliche Attacca-Vorschriften und dirigiert mit Esprit, dass man den Eindruck hat, ihm ginge dabei das Herz voller Freude auf.

Die vier Sätze der Symphonie Nr. 3 a-Moll op. 56 interpretiert Blomstedt als noble Einladung. Mit einem dem Orchester zugewandten Lächeln, aufmerksam konzentriert, klangmalen die Musiker feinstrukturierte Arabesken. Sie formen ein Ganzes, ein engverschlungenes Ganzes, wie Robert Schumann einst bemerkte.

Tiefernst, melancholisch bis elegisch gestimmt, entwickelt der 1. Satz aus einem klarinettengefärbten Pianissimo fahle Unruhemomente. Mit volkstümlich lebhafter Anmutung kontrastiert das Scherzo den düster verhangenen Beginn. Dem von Ernst und Nachdenklichkeit gefärbten Adagio gewinnt Blomstedt mit dem Chamber Orchestra of Europe eine dichte lyrische Klangfarbigkeit ab, die sich in den scharf punktierten Bläsermotiven zu orchestralen Tutti-Ausbrüchen steigert. Das Orchester folgt den filigranen Gesten des altersweisen Maestro bis ins kleinste Detail. Mitunter reicht ein kleiner Fingerzeig, beruhigt schwingend Arme, ein betontes Pianissimo anzeigende, vor den Mund gehaltene Hände, um das Orchester in Mendelssohn Bartholdys Klangkosmos zu begleiten. 

Episch erhaben, durchweht schaurige Sturmmusik Andante con moto den ersten von Holz und Blech geheimnisvoll gewebten Satz. Blomstedt sitzt geerdet auf seinem Klavierhocker, zieht mit sparsamen Körperbewegungen des Oberkörpers den Klang gleichsam in den Raum. Wiegend mit der Hüfte Vivace non troppo, sind windfrische Meeresbrisen zu ahnen, die sich im Adagio mit dem vom Horn angestimmtem Motiv elegisch und wachträumend im Finale Allegro vivacissimo – Allegro maestoso assai zur finalen Eleganz aufbauen.

Den hymnisch sich auftürmenden Finalsatz verstärkt Blomstedt mit einem notierten Allegro maestoso assai zu einem von Schlachtengetümmel durchpulsten Allegro guerriero. Ursprünglich von Mendelssohn Bartholdy so bezeichnet, später von ihm getilgt, folgt Blomstedt der ersten Intention des Komponisten und bekennt sich zu seinem konstruktiv-kontrapunktischen Kompositionsprinzip.

Standing Ovations im Konzerthaus Dortmund für einen Großen, der wie aus der Zeit gefallen, inniglich verzaubert.

29.05.2023

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Mondrianisierung der Welt?

Piet Mondrians Malerei ist eine Inkunabel der Moderne. Aber nicht nur in der bildenden Kunst. Seine Bildflächen mit den Primärfarben Rot, Gelb und Blau prägen das Design von Alltags- und Gebrauchsgegenständen bis zu Stadträumen, wie das der Fashon-Szene. Mondrian ist immer schon da, auch wenn ihn viele nicht unbedingt als Künstler identifizieren. Mondrian und die Folgen sind unübersehbar. Im Fall von Piet Mondrian blieb die Neue Gestaltung tatsächlich kein kunstimmanentes Konzept, sondern beeinflusst bis heute Mode, Design und Popkultur, formulieren die Kuratoren Andreas Beitin und Elena Engelbrechter im Pressetext.

Die Ausstellung Re-Inventing Piet. Mondrian und die Folgen im Kunstmuseum Wolfsburg (noch bis zum 16.Juli 2023) zeigt diese folgenreiche Entwicklung anhand von rund 120 Kunstwerken und Objekten. Sie gibt ausschnitthaft einen Überblick der facettenreichen Auseinandersetzung mit Mondrians Werk.

Beitin und Engelbrechter wollen mit dieser Ausstellung nichts weniger als Re-Inventing Piet. Mondrians neoplastizistische (neue) Gestaltung des Farbraumes in seinen assoziativen Dimensionen als kreativer Input für andere Künstler mit ihr neu zu erfinden, ist ein zumindest ein generöser, mutiger Zugriff der Kuratoren im Blick auf die Originale.

Eine Auswahl von ihnen, ausgestellt im zentralen Rundbau der Ausstellungsarchitektur, ziehen verbindende Linien zu künstlerischen Interventionen von Theo van Doesburg (Contra-compositie, 1925), Kurt Schwitters (Abstrakte Komposition, 1925)und Sophie Taeuber-Arp (Composition verticale-horizontale, 1916), zu den ikonografischen Mondrian-Kleider von Yves Saint Laurent sowie zu Arbeiten von Sylvie Fleury, Remy Jungerman oder Mathieu Mercier. Dass ebensoeine Arbeit von Sarah Morris zu sehen ist (DULLES, 2001), schlägt gleichzeitig einen Bogen auf ihre aktuelle Ausstellung All Systems Fail in den Deichtorhallen Hamburg.

Die Ausstellung lädt ein, Mondrians malerischen Rhythmen aus geraden mit Blau, Rot und Gelb als Weiterentwicklungen zu verfolgen. Keine Plagiate, sondern reflexive Erweiterungen seiner plastizistischen Idee. Appropriationen, wie beispielsweise César Domela mit Neoplastische Komposition von 1925. In einem solchen Re-Inventing-Kosmos sind harsche Auseinandersetzungen und Streit unvermeidbar. Die von Marlow Moss erstmals gesetzte, schwarze Doppellinie (White, Black, Red and Grey, 1932) über nimmt Mondrian später, ohne auf Moss zu verweisen.

Eine sogenannte Mondrianisierung der Welt (Katalogbeitrag von Friedrich von Borries) beginnt noch zu Lebzeiten Mondrians – und wird von seinen Erben einträglich forciert. Die mit Re-Inventing Piet ausgestellten Werke der bildenden Kunst sowie Produkte, die Mondiran-Kompositionen als Signet, Zitat oder als Abziehbild verwenden, lassen fragen, inwieweit diese mehr oder weniger direkte Motivübernahme in andere Kontexte frevelhaft ist. Letztlich lassen sich insbesondere die im Produktmarketing angeeigneten dekorativen Applikationen auf kommerziell verwertbare Strategien zurückführen. Sie folgen kapitalistischen Verwertungsstrategien.

In diesem Sinn stehen sie Mondrians Kunstverständnis einerseits diametral gegenüber. Andererseits hat die Argumentation, dass mit der Avantgarde zu Beginn des 20.Jahrhunderts eine programmatische Erweiterung der bildenden Kunst in den Alltag mit dadaistischem Furor, wider mystizistischem Glorienschein gewollt ist, einiges für sich.

Die Wolfsburger Ausstellung stellt die Bedeutung Mondrians in der Kunstgeschichte nicht in Frage. Sie ist ein Angebot, sich durchaus spielerisch dem Phänomen Mondrian zu nähern. 

29.05.2023

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Wiedersehen mit Alarcón & Co

KLANGVOKAL 2023, nach Corona bedingter Pause eine Rückkehr zu wohlbekannten Künstlerinnen und Künstlern. Zurück in die St. Reinoldikirche Dortmund, zurück zu Leonardo García Alarcón und zur Cappella Mediterranea sowie dem Choeur de Chambre de Namur (Falvetti nach 2014 auch 2016 klangschön bei KlangVokal Dortmund vom 15.05.2016). Stammgäste des Musikfestivals, von denen man meinen könnte, erst gestern mit ihnen ein Glas Wein getrunken zu haben. Große Emotionen, die mit der Aufführung von Claudio Monteverdis Marienvesper grandios eingelöst werden.

Rätselhaft als Sanctissimae Virgini Missa senis vocibus ade ecclesiarum choros, ac Vespere pluribus decantandae cum nonnulis sacris concent ad Sacella sive Principum Cubucula accomodataibus bezeichnet, 1610 veröffentlicht, lässt dieses Werk bis heute die Frage nach dem eigentlich Anlass der Komposition unbeantwortet. Relativ klar ist, dass es sich nicht unmittelbar einer christlichen Liturgie zuordnen lässt. Die Zuschreibung der lateinischen Übersetzung – für mehrere Stimmen mit einigen geistlichen Gesängen (sacella) für Kapellen oder Fürstengemächer (cubicula) geeignet – nimmt Alarcón als konzertante Vorgabe. MonteverdiIam hiems transiit, imber abiit et recessit – verweist in seinem ersten Concerto auf die Jahreszeit, den beginnenden Frühling. Frömmigkeit der Zeit und gleichzeitiger Einklang mit der Natur.

Die Marienvesper gibt Alarcón reichliche Möglichkeiten, Monteverdis Komposition als Gesamtkunstwerk von sakralen sowie profanen Musikformen zu inszenieren. Den von jenem 1607 mit der richtungsweisenden Oper L’Orfeo aufgestoßenen Klangraum erweitert sie mit einem Invitatorium, fünf Psalmen, einem Hymnus und einem doppelten Magnificat auf geradezu revolutionäre Weise. Diese hörbar präsente Vielseitigkeit des Komponisten Monteverdi übersetzt Alarcón in ein den St. Reinoldi-Kirchenraum ein- und umhüllendes, überwältigendes Klangerlebnis. Affektreiche und spannungsvolle Passagen, miteinander verwoben in Melodie, Polyphonie, Monodie (nuove musiche) und Rhythmik, erdet er wie einen schillernden Regenbogen zwischen Himmel und Erde.

Beginnend mit einer Toccata, die auch L’Orfeo eröffnet, folgt Alarcón kongenial der Klangmagie Monteverdis. Dramaturgisch zügig fließend gestimmt, paraphrasiert er mit kurzen, dezidiert betonten Generalpausen die Dimensionen der Marienvesper. Ein stetiges, atmosphärisch aufgeladenes, anmutiges Klangrauschen der Cappella Mediterranea im unbedingten Einverständnis mit Choeur de Chambre de Namur durchwebt den Raum. Sechs- bis doppelchörige Zehnstimmigkeit, konnotiert von Solisten, die sich gemeinsam in der Sonata Sopra Sancta Maria und dem Hymnus Ave Maris Stella im Kirchenraum verteilen. Die von Rezitativen und ariosem Gesang unterbrochenen sinfonischen Zwischenmusiken interpretiert die Cappella Mediterranea mit barocker Vielfarbigkeit.

Alarcón dirigiert in absoluter Überzeugung und wendet sich mitsingend den solistischen und chorischen Stimmen zu. Seine Hände beschwören Klanghöhe und Tempi mit traumwandlerischer Sicherheit. Es ist, als schütte er Glückshormone aus einem unendlich scheinenden Klangraum über die glückselig ergriffenen Zuhörenden.

Für die solistischen Partien hat sich Alarcón ambitioniert engagierter, stimmlich differenziert gemischter Sängerinnen und Sänger versichert. Mit der Sopranistin Mariana Flores ein Wiedersehen (Keine Zeitverschwendung mit Cavalli vom 26.10.2011), die sich mit Gwendoline Blondeel (Sopran), den Tenören Valerio Contaldo  und Mathias Vidal,  den Bassisten Alejandro Meerapfel und Salvatore Vitale sowie David Sagastume Balsategui (Altus) zu solistischen, gleichwohl poetisch inspirierten Höheflügen aufschwingen.

Selbst der Regen vor der Tür der Kirche hat keine Chance, die Hochgefühle auf dem Weg nach Hause, in die Niederungen des Alltags zu löschen.

24.05.2023

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Vergebliche Reinwaschung des Macbeth

Johan Simons und Jens Harzer zum Dritten im Schauspielhaus Bochum. Nach Penthesilea von Heinrich von Kleist (Elysisches Schlachtfeld vom 14.11.2018) und Iwanow von Anton Tschechow (Verstehen Sie sich selbst? vom 22.01.2020) folgt jetzt mit Macbeth die Fortsetzung dieser kongenialen Zusammenarbeit von Regie- und Schauspielkunst.

Macbeth gilt vielen, wie Goethe formuliert, als Shakespeares bestes Theaterstück. Weitergehend für die umfassendste Vision des Bösen. Simons inszeniert das Stück in der Fassung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch als bitterböse Persiflage auf das latent konstitutive, unmittelbar abrufbare Böse des Menschen. Ehrgeiz und opportunistische Kollaborationen eingeschlossen werfen zwangsläufig die Frage auf, ob nicht in jedem einzelnen Menschen etwas von Macbeth steckt?

Für das atmosphärische Macbeth-Dunkle, gespiegelt in der bürgerlichen Unschuld einer Villa mit Pool, hat Nadja Sofie Eller eine minimalistische Struktur gebaut. Privates Schwimmbad und öffentliche Badeanstalt, unmittelbar anschließend, funktionieren als (seelen)reinigende Waschanlagen. In diesen dysfunktionalen Ebenen spielen Marina Galic (Hexe 3, Lady Macbeth, Banquo, Macduff, Lady Macduff, Sohn)und Stefan Hunstein neben Harzer (Hexe 2, Duncan, Macbeth, Malcolm, Mörder) alle Rollen. Hunstein gibt vor allem die Haupthexe 1 mit wirr in die Stirn fallenden Haaren, immer wieder wechselnd zu manipulierenden Schattenfiguren. Sie alle halten den blutrünstigen Macbeth-Kosmos, wenn er auseinanderzufallen scheint, zusammen.

Simons choreografiert die Handlungsoptionen der drei Protagonisten in einer miteinander leiblich verschlungenen, traumatischen Performance. Angetan mit Anzug, weißem Hemd und Fliege (Kostüme: Greta Goiris), könnte es sein, sie machten sich auf den Weg ins Theater, um sich selbst beim Macbeth-Spiel zuzusehen. Die Nacht, die nie Tag werden wird.

Harzer und Galic wechseln innerhalb einer Szene in Sekundenschnelle ohne Übergang von einer Rolle in die andere. Harzer, von Lady Macbeth (Galic, rot geschminkt, schlüpft in High Heels erotisch animierend) zum Mord gedrängt, legt sich als Macbeth, mit zwei Messern bewaffnet, von Hunstein unterstützt, im wasserentleerten, hauseigenen Pool auf eine Matratze. Ist für den Moment mit aufgesetzter Krone König Duncan. Nimmt sie umgehend wieder ab und sticht als Macbeth so auf sich selbst, auf Duncan ein. Das bürgerlich nobel verblichene Schwimmbad der Villa verwandelt sich umstandslos in ein Schlachthaus.

Ebenso besticht Galics Spiel in Personalunion von Lady Macduff und deren Sohn. Große Schauspielkunst, die gerade auch in Nebenszenen, nach erstem Augenschein eher weniger wichtigen, nachhaltig charakterisierenden Eindruck hinterlässt.

Als Zuschauer braucht es eine gewisse Zeit, um die Rollenwechsel an den Orten des Grauens folgen zu können. Wer ist wer, wer mit wem, an welchem Ort?  Die Tonlage des Gemetzels stimmt Simons eher zögerlich verzagt, unentschlossen. Das Böse passiert mehr beiläufig, als kompromisslos radikal. Dieses Zögerliche, als stünde Macbeth neben sich, als wäre er nicht er selbst, der mordet, spielt Harzer mit unnachahmlicher gestisch unterstreichender Sprechkultur. Vokale, mitunter betont langezogen, modulieren sein Sprechgestus kontrastreich für die jeweilige Person. 

Weniger somnambul, eher spiegelfechterisch im Phantastischen einer Hexen-Sabbat-Dinner-Party sich wähnend, geht er zu einem Schallplattenspieler, setzt die Nadel auf. Liebesträumerisch mit Je t’aime von Serge Gainsbourg beim Tanz vorerst alles vergessend. Wegwischen wird er später mit einem Einstecktuch die Spuren seiner Taten. Noch ist der Dolch allerdings nicht gewetzt. Das Morden kann noch einige Zeit warten. Ich werde warten (können), behauptet Dalida siegessicher: J’attendrai.

Und wenn’s schief geht? Kann nicht passieren, stärkt ihn Lady Macbeth die Siegesgewissheit mit ruhrpott-deutscher Unerschütterlichkeit: Hör’ ma! Drei mordende Monster, die drei Mal im Halbdunkel allen Schmutz, alles Blut abzuwaschen versuchen. Jetzt kenn ich mich und will mich nicht mehr kennen. Hunstein zelebriert mit einer mit Blut gefüllten Tasse, die erst damit die tödlichen Wunden der Opfer markiert, absurdes Theater. 

Minutenlanges stilles Beobachten der Reinwaschungsversuche aus der Zuschauerperspektive, das nachdenklich macht: Könnte auch mir das passieren? Simons legt mit seiner Inszenierung eine existenzielle Spur des Wassers. Wasser als Voraussetzung allen Lebens erhält eine metaphorisch reflektierte Rahmung mit Video-Screenings vom Leben in einer Wiese. Grashalme, Käfer, eine Raupe aus einer gezoomten Mikro-Perspektive, dekliniert Simons bewusst Shakespeares Naturverständnis durch.

Im Kontext von Macbeths Vernichtungsfeldzug gegen Duncan, Macduff und seine Familie, gegen seinen ehemaligen Mitstreiter Banquo zieht Simons eine direkte Verbindung zur Selbstvernichtung des Menschen. Klar ist, dass wir uns selbst zugrunde richten, weil wir alle so viel Bösartiges in uns tragen….Die Welt (die Natur) wird in ihrer unendlichen Vielfalt und ihren Nuancen ohne uns weiter existieren, räsoniert Simons im Programmheft.

Die Projektion der Naturidylle verwandelt sich mit apokalyptisch anmutendem Aplomb. Ein elektrischer Holzspalter zerkleinert Bäume, die über Jahrzehnte gewachsen sind, zu Holzscheiten. Sie fallen leblos beiseite. Harzer, Galic und Hunstein nehmen nach der letzten Waschung in Abendanzug, weißem Hemd und Fliege wie zu Beginn ihre Dreiecksposition ein. Der Kreis ist geschlossen. Alles noch einmal auf Anfang. Wie viele Anfänge werden wir noch haben (dürfen)? Nach Simons keine, da wir innerhalb absehbarer Zeit nicht mehr da sein werden.

14.05.2023

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Jazzige Umarmungen

Émile Parisien und Vincent Peirani, ein Duo, das seit einigen Jahren den Jazz der Zeit eine besondere Klangfarbe mit Tenorsaxophon und Akkordeon verleiht. Auf ihrer derzeitigen Tournee unterstreichen sie im Zusammenspiel mit weiteren Musikern ihre Klasse. Mit Louise, dem Émile Parisien Sextet sowiemit Jokers, dem Vincent Peirani Trio, beginnend mit Abrazo, ihrem eigenen Duowird es im Konzerthaus Dortmund ein langer, fast dreistündiger Konzertabend mit drei unterschiedlich besetzten Formationen.

Ein Abend mit vielen musikalischen Farben, allerdings auch mit einigen Anlaufschwierigkeiten. Die Matadore Peirani und Parisieneröffnen mit routiniert zelebrierter Coolness. Parisien nimmt mit unterschlagenen Beinen auf einem Barhocker Platz. Aus dieser entspannten Position löst er sich, bürstet sein Tenorsaxophon gegen ein allzu harmonisch moduliertes Wohlgefühl. Schiebt das Sitzmöbel lässig mit dem Fuß weg, wendet sich Peirani zu. Auftakt für eine fulminante Kommunikation der beiden.

Nichtsdestoweniger inszenieren sie sich im Showformat. Peirani, schlank hochgewachsen barfüßig, ein Kissen zwischen seinem Oberkörper und dem Akkordeon platziert, unterstützt die Akkordeon-Registerläufe seiner Hände mit schlendernd drehenden Bewegungen des rechten Fußes. Parisien lässt sich, wie man seine Performance kennt, nicht lumpen. Mit rhythmisch betonenden, ebenso mit dem rechten Bein aufwärts ziehend tigert er in der Pose eines Tanzbärs über die Bühne. Hält immer wieder niederkniend an, befeuchtet das Saxophon-Blättchen sorgfältig, um mit Peirani verblüffend vielstimmige Sounds mit nur zwei Instrumenten zu spielen.

Peiranis extraordinär revolutioniertes Akkordeonspiel öffnet zusammen mit Parisiens differenziert intonierendem Tenorsaxophon so bisher nicht gehörte Klangräume. Sie spielen Songs ihrer aktuellen CD Abrazo. Mit Between T’s (Peirani) oder Memento (Parisien)umarmen sie sich in einem blinden Einverständnis. Una Festa degli abbracci.

Nur eine kurze Verschnaufpause für Parisien und die Konzerthörer, bevor er mit Louise, einem hochkarätig besetzten Sextett amerikanischen Jazz-Roots unter Volldampf folgt. Wesentlich von seinen langjährigen Wegbegleitern dem Gitarristen Manu Codjia und dem Pianisten Roberto Negro getragen. Für viele vielleicht eine Überraschung entfaltet Theo Crokers Trompetenspiel eine beeindruckende emotionalen und stilistischen Bandbreite. So lässig, beinahe nonchalant sich Croker gibt, liegt in seinem Spiel eine zauberische Magie. 

Parisien gibt seinen Musikern viel Raum für Soli. Codjia erinnert mit seinen elektrisch verstärkten Riffs fast beiläufig an Rockmusik der 1970er Jahre, wie Negro mit Free Jazz Piano nichts anbrennen lässt. Inszeniertes Spiel im Stehen, mit breit aufgefächerten Handbewegungen kreisend, gibt er den Piano Hero himself. Der Bassist Joe Martin steht mit dunklem Basslinien-Raunen dem nicht nach. An den Drums ein Crack an seinem Instrument – jedenfalls nicht Nasheet Waits wie auf der CD-Einspielung (aber wer ist es?) -, der weiß, wo es mit Louise lang geht.

In der Pause singt vor dem Konzerthaus ein Straßenmusiker, sich selbst begleitend auf der türkischen Saz. Die Poesie der Flaniermeile Brückstraße schafft auf geheimnisvolle Weise eine Brücke zum Konzert im Haus. Das abschließende Peirani-Projekt Jokers, einem Trio mit dem Gitarristen Federico Casagrande und dem Schlagzeuger Ziv Ravitz poetisiert mit liedhafter Melancholie. Peiranis Akkordion-Klang, durch diverse Filter elektronisch aufgeladen, färbt sich wie eine Mischung aus Celesta und Glockenspiel. Peirani outet sich mit einem Faible für Rock, Pop und elektronische Musik als Jimi Hendrix des Akkordeons.

Nach rockigem Revival-Sound packt Peirani eine Accordina, ein mit dem Mund geblasenes Mini-Knopfakkordeon aus. Now we play little more softly. Zufriedene Gesichter nach einem Jazzkonzert in drei Akten mit einem breit gefächerten Stilmix ohne Grenzen in Dortmund.

13.05.2023

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Tannhäuser über-tanzt

Staatsoper Berlin TANNHÄUSER Musikalische Leitung: Daniel Barenboim Inszenierung: Sasha Waltz Bühnenbild: Pia Maier Schriever, Sasha Waltz Kostüme: Bernd Skodzig Licht: David Finn

Tannhäuser-Inszenierungen tun sich häufig schwer, Wagners mysthische, aus vielen Versatzstücken zusammengesetzte Erzählung stringent zu übersetzen. Ob Biogasanlage im Venusberg auf der Wartburg, die Sebastian Baumgarten 2011 in Bayreuth auf die Bühne hievte, ob Burkhard Kosminskis Idee 2013 in Düsseldorf, Wagners Antisemitismus als Background-Raunen im Venusberg zur Sprache zu bringen (von einigen Medien kurzerhand als Nazi-Oper bezeichnet und nach der Premiere vom Spielplan wieder abgesetzt) – oder jüngst die von Paul-Georg Dittrich am Aalto-Musiktheater Essen mit wenig geschickter Modernisierungs-Attitüde (…und wieder geht die Oper ins Labor vom 30.11.2022) – häufig haben sie grundsätzliche Akzeptanzprobleme.

Das Rezeptionsproblem liegt in der Tannhäuser-Perspektive des 19.Jahrhunderts. Ein öffentliches Liebes-Bekenntnis, das frank und frei sagt, was Sache ist, war zu Wagners Zeiten ein Tabubruch und ein Skandal zugleich. Dass Liebe auch erotisch körperliches Begehren bedeutet, war auch schon damals nicht fremde und vielfach gelebte Praxis. Nur darüber zu reden oder es gar auf einer Opernbühne mit Tannhäusers schwelgerisch sinnlichem Gesang als Anstiftung zum ungezügelten Sex vorgeführt zu bekommen, war das eigentliche Skandalon.

Wer heute Tannhäuser inszeniert, kann deshalb die gehabte, schamhaft sich gebende, doch in Wirklichkeit verlogene Moral-Keule nicht mehr schwingen. Allein mit jedem Klick im Internet ist es möglich, Räume zu öffnen, wo erotische Phantasien zu pornografischen Freizeitangeboten stand-by gebeamt werden. Was also im 21.Jahrhundert mit einem von Wagner im 19.Jahrhundert zusammen gebastelten Tannhäuser-Mythos aus dem 13.Jahrhundert tun, um Menschen heute zu erreichen?

Sasha Waltz inszeniert, wofür sie als Choreografin bekannt ist. Sie entwickelt szenische Bewegungsstrukturen, die individuell geprägt sind, sich aber als kollektiv atmender Menschenkörper bewegen. Die Wiederaufnahme ihrer Inszenierung von 2014 basiert auf einer Mischform von Wagners 1845 in Dresden uraufgeführter und für die Pariser Aufführung 1861 überarbeiteter Version. Insbesondere das Bacchanal, das ohne Pause nach der Ouvertüre folgt, kommt ihr als Leiterin der Compagnie Sasha Waltz & Guests entgegen. Dass sich die Choreografin gegenüber der Regisseurin viel Raum gibt, führt allerdings zu einer in Verlaufe der Aufführung unausgewogenen, auf Dauer ärgerlichen Schieflage von Musik und Tanz.

Mit der Ouvertüre öffnet sich der Vorhang, und eine diffus beleuchtete Scheibe fokussiert den Blick. Sie verräumlicht sich in der Bühnenarchitektur von Waltz und Pia Maier Schriever stetig zu einem offenen Kegel. Aus dem Venusberg sprudeln die Tänzer, als würde sie aus dem Himmel auf die Erde fallen. Choreografierte scherenschnittartige Szenen bilden den Prolog für Tannhäusers Abschied aus dem Liebes-Lust-Reich der Venus. Diese assoziative Ebene von Tanz und Musik schließt sich im finalen Bacchanal symbiotisch relevant und stimmig kurz.

Weniger stimmig zeigen sich die choreografierten Kommentare zu den solistischen und chorischen Handlungsabläufen. Sie überdecken mitunter geradezu den musikalischen Handlungsraum. Diese tänzerischen Arabesken über-tanzen die Musik.

Für einen Moment drängt sich die Video-Arbeit Abstraction Licking (2013) von Cristina Lucas auf, die bei einem Stopover auf dem Weg nach Berlin im Kunstmuseum Wolfsburg innerhalb der Ausstellung Re-Inventing Piet. Mondrian und die Folgen zu sehen ist. Sie kontrastiert, distanziert abstrakt in Sequenzen. Eine solcherart minimalistischer Reduzierung hätte Waltz‘ Inszenierung eine ausgewogenere Balance gegeben. So geriert sie sich in eine teilweise überambitioniert dominante Tanz-Performance-Perspektive. Sie hemmt das Spiel von amour courtois und amour fou eher, als das sie es beförderte.   

Das Erhabene nahe neben dem Lächerlichen, die sinnliche Liebe neben dem Gutmenschentum als Engagement für eine bessere, erlöste Welt. Tannhäusers Einerseits – Nach Freiheit, Freiheit dürstets mich (I, 2) – und sein Andererseits – Ach, schwer drückt mich der Sünden Last, kann länger sie nicht mehr ertragen (I, 3) – ist ein schwer zu bewältigender Spagat.

Sebastian Weigle findet mit der Staatskapelle Berlin musikalische Ausdrucksformen, diese Widersprüche nicht zu verwischen. Er stellt sie hörbar aus. Blechbläser auf der Bühne, der Staatsopernchor hinter der Bühne: Suggestion von Nähe und Ferne.

Der Tannhäuser von Vincent Wolfsteiner ist insbesondere anfangs in vielerlei Hinsicht gewöhnungsbedürftig. Seine besondere Körperlichkeit erweist sich nicht nur für ihn, sondern auch für die anderen Solisten neben Lise Davidsens zauberischem Sopranklang als schwer überbrückbarer Gegensatz. Dass Wolfsteiner vor allem zu Beginn, aber auch späterhin Intonationsprobleme hat, macht diesen Kontrast zudem noch deutlicher. Hervorzuheben ist sein sprechdeutlicher Gesang, der aber mitunter den Tannhäuser-Anforderungen hinsichtlich Kondition von stimmlicher Kontinuität und körperlicher Beweglichkeit Tribut zollen muss.

Davidsen singt als Elisabeth in einer eigenen Liga. Ihr Ansatz ist makellos selbstverständlich. Sie atmet mit brillantem Ausdruck, in den Höhen mit schimmerndem Leuchten, wie sie in den Sopran-Ebenen eine souveräne Präsenz ausstrahlt. Als Venus verfügt Marina Prudenskaya über einen satten, dunkel getönten, erotisch gefärbten Mezzosopran. Gesang und Spiel fügen sich bei ihr zu einem eigengeprägten Venus-Charakter.

Als Wolfram von Eschenbach setzt André Schuen dort fort, wo er vor zwei Jahren als Elias in Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium im Gewandhaus zu  Leipzig (Elias als Gesamtkunstwerk vom 06.11.2021) nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht hat: Ein kraftvoll faszinierender Bariton mit sorgfältig ausbalancierter Empfindsamkeit.

Lebhafter Beifall für einen durchaus widersprüchlichen Tannhäuser nach und mit Sasha Waltz.

11.05.2023

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Mysterien des Todes

Messa da Requiem beginnt in Stille. Die Tänzer des Staatsballetts Berlin schreiten sehr behutsam den Weg in die Tiefen von Guiseppe Verdis extraordinärer Messe ab. Ehe noch die Musik einsetzt, ist das Publikum eingestimmt auf Zartheit und Wucht dieses Werkes.

Über Guiseppe Verdis Requiem ist sehr viel, auch widerstreitend gesprochen, geschrieben, debattiert worden. Verdi gilt manchem als Agnostiker, der trotz des im Italien des 18. Jahrhunderts zwingenden katholischen Ritus seiner Auseinandersetzung mit dem Tod und den großen Fragen des menschlichen Daseins in seinem Requiem außerhalb allein des Religiösen Ausdruck zu geben sucht und findet.

Die Geschichte der Entstehung dieses Werkes ist sehr speziell. Geplant war zunächst eine Missa per Rossini – ein Gemeinschaftswerk verschiedener Komponisten anlässlich des 1868 in Paris verstorbenen. Gioachino Rossini. Zur Vollendung dieses Werkes kommt es nicht. Verdi hat bereits seinen Beitrag Libera me komponiert.

Jahre später wird der Tod des von Verdi hochverehrten Dichters Alessandro Manzoni 1873 in Mailand schlussendlich zum Auslöser der Komposition des Requiems. Am ersten Jahrestag des Todes Manzonis kommt es zur Uraufführung, nachdem Verdi dem Bürgermeister von Mailand geschrieben hatte: Es war einfach ein Impuls, besser gesagt, ein Herzensbedürfnis, was mich trieb, nach besten Kräften diesem Großen Ehre zu erweisen, einem Mann, den ich als Schriftsteller so sehr geschätzt, als Menschen verehrt habe, dem Musterbild patriotischer Tugend.

Während der Hans von Bülow Verdi als Verderber des künstlerischen Geschmacks denunziert, formuliert Brahms seine Begeisterung: So etwas kann nur ein Genie schreiben.

An der Deutschen Oper Berlin legt Christian Spuck, der mit der Spielzeit 2023/24 die Intendanz des Staatsballetts Berlin übernimmt, mit seiner Inszenierung eine nachhaltige, öffentliche Bewerbung vor. Sieben Jahre nach der von ihm choreografierten und inszenierten, fulminant bejubelten Premiere 2016 am Opernhaus Zürich (Messa da Requiem – große Musik, große Stille vom 10.01.2017) besticht sie nach wie vor mit ihrer frischen Ästhetik.

Wenn es je zutrifft, insbesondere im Blick auf Richard Wagner, dem großen Widersachers Verdis von einem Gesamtkunstwerk zu sprechen, Spucks Inszenierung kann in ihrer kongenialen Verbindung von Orchestermusik, solistischem und chorischem Gesang und Tanz als programmatischer Beweis dafür gelten. Sie verbindet die Kunstformen als ein symbiotisches Ganze. Die einzelnen Darstellungs- und Ausdrucksformen gehen ineinander über. Sie thematisieren, wenn man so will, eine Bestandsaufnahme des Lebens zwischen Geborenwerden und Sterbensmüssen.

Lebenslang ringt Verdi um existentielle Antworten auf letzte, sich einem rationalen Verständnis entziehende Fragen. Fragen nach Leben und Existenz, nach Tod und Endlichkeit und nach all den Dingen, die so unfassbar mit all dem verbunden sind.

Diese komplexe Frage-Struktur, thematisiert in 16 Tableaus, ohne dass der vorgegebene, religiöse Text damit bebildert würde, ist das Rückgrat der Inszenierung. Die Einsamkeit des Sterbenden, die Sehnsucht nach Erlösung und vor allem sind es die Inseln des Trostes, die die Tänzer skizzieren. Sie bewegen sich in der Bühnenarchitektur von Christian Schmidt, einem großen, leeren Raum, der – nur selten und spärlich möbliert – Platz lässt für die verschiedenen Konstellationen der  Tänzer, des Chores und der Gesangssolisten.

Phasen starker Bewegungen wechseln mit Augenblicken, in denen einzelne Szene existentiell in Form von Tableau vivante ausgedeutet werden. Der Mensch ist auf sich selbst geworfen. Die Menschen müssen sich gegenseitig Trost spenden. Kein höheres Wesen, kein Himmel und keine Hölle, nirgends.

Das Ballett-Ensemble bezaubert durch wunderbare, einfühlsame Art der gegenseitigen Bezugnahme. Die Tanzsolisten – ihre Liste ist lang, ihre Leistung ist eindrucksvoll -, den gesamten Ballett-Compagnie, die Vielfalt Corps de Ballet zeigt Spuck. Hervorzuheben sind beispielhaft die Solo-Tänzerin Elisa Carillo Cabrera sowie Polina Semionova als Principal Guest und der Solotänzer David Soares.

Für seine Inszenierung hat sich Spuck große Stimmkultur gesichert. Olesya Golovnevas Sopran beeindruckt durch filigran lyrische Betonungen. Ihr gehört im Libera me  das letzte Wort des Requiems, einem wundervollen Ausklang des Werkes. Der Tenor Attilio Glasers besticht durch eine breit gestreute Klangfülle. Seine Gesangskultur, der tenorale Schmelz lässt die Nähe zum Opernkomponisten  Verdi mitunter anklingen.

Karis Tuckers Mezzosopran hat eine integrative Ausdruckskraft. Sie bindet die Solisten und den sowohl formidabel singenden wie auch rhythmisch bewegten Rundfunkchor Berlin mit dem Ballett zu einer von ihr wesentlich mitbestimmten Messa-Allianz. Der hoch gelegte Bass von Lawson Anderson markiert auch mit seiner Körperlichkeit, Würde und Beständigkeit, als das Prinzip Hoffnung.  

In Spucks Inszenierung singt der Rundfunkchor Berlin vorzüglich, wie er auch gestisch und tänzerisch veritabel interagiert. Eine Imagination, als würde die ganze Menschheit auf der Bühne stehen. Die Vielfalt menschlicher Existenz zeigt sich gerade im Wesen des Chores, der zusammen mit den Tänzern und den Gesangssolisten die Ruhe sowie die Wucht des Werkes nachhaltig bildhaft zum Ausdruck bringt. Selbst in den schwierigsten Phasen des Chorgesanges – manchmal scheinen die Stimmen der in verschiedene Richtungen orientierten Sänger auseinander zu driften – finden sie mühelos und schlüssig wieder zusammen zu einem geschlossenen Klang.

Dass Spuck ein kreativer Choreograph ist, beweisen seine Arbeiten in Stuttgart und Zürich, wie auch weltweit. Dass er gleichermaßen bewunderungswürdig zu inszenieren versteht, zeigt seine Messa da Requiem jetzt auch in Berlin. Christian Spuck hat sich mit Messa da Requiem glänzend eingeführt in Berlin, meint nicht nur der Tagesspiegel allein. Der Jubel in der Deutschen Oper ist lautstark bis enthusiastisch.

08.05.2023

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Romantischer Dance-Floor

Die Elbphilharmonie ist sechs Jahre nach der Eröffnung zu einem festen Bestandteil des Hamburg-Tourismus geworden. Das Konzert mit dem Freiburger Barockorchester legt diesbezügliche Auswirkungen nahe. Applaus nach jedem Satz der Sinfonie Nr. 6 C-Dur D 589 von Franz Schubert, der bis in Ein Sommernachtstraum op. 61 von Felix Mendelssohn Bartholdy kontinuierlich anhält. Pablo Heras-Casado am Pult des Orchesters ist darüber anfänglich ziemlich genervt. Findet schlussendlich mit anhaltend signalisierenden Handbewegungen eine Strategie, der Musik ihren klanglich frei fließenden Raum zu geben.

Apropos Heras-Casado, Jahrgang 1977. Er wird seit Jahren als der scheinbar ewig junge Newcomer weltweit gefeiert. Bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen wird er mit Parsifal debütieren. Gutes Timing oder kalkuliertes Marketing? Neben dem Konzertprogramm des Abends liegt die Ausgabe Mai 2023 des Konzert- und Opernmagazin concerti mit dem seinem Konterfei auf der Titelseite griffbereit.

Ob das seit mehr als 100 Jahren praktizierte, in der Tradition eines mehr oder weniger konservativ verlässlichen Einverständnisses, Konzerte nicht abschnittsweise als Häppchenkost zu unterbrechen, noch immer zeitgemäß ist, sei dahingestellt. Gefühlt unbestreitbar, scheint dagegen, dass Event-Marketing mit Drei-Tage-Angeboten (Hotelangebot mit Stadt-/Hafenrundfahrt plus Elbphilharmonie-Konzertkarte) tradierte Konzertkulturen verändern. Dass die Elbphilharmonie als Veranstaltungsort dementsprechend (zusätzlichen?) Handlungsbedarf im Kontext der Servicekultur hat, zeigen lange Warteschlangen vor dem Damen-WC und nicht funktionierenden Wasserhähnen der Handwaschbecken in einzelnen Herren-WC an.

Gemischte Wahrnehmungen, wenn natürlich auch ganz andere als die erwähnten, generieren das Konzertprogramm mit Schubert und Mendelssohn Bartholdy. Beide Zeitgenossen und Heroen der Musikgeschichte nach Beethoven Anfang des 19.Jahrhunderts, denen nur eine kurze Lebenszeit gegönnt war (Schubert wurde 31 Jahre alt, Mendelssohn Bartholdy 37 Jahre). Ebenso ist die Schubert-Sinfonie wie Mendelssohn Bartholdys Ouvertüre des Sommernachtstraum ein jugendlich fulminanter Auftakt-Furor, der eine frühe Meisterschaft mit einer Schauspielmusik offenbart.

Heras-Casado schwingt sich gemeinsam mit dem Freiburger Barockorchester zum Auftakt mit der Ouvertüre zu Rosamunde, Fürstin von Cypern, D 797 in einen Schubert‘schen Klangkosmos mit südlich abgemischter Grandezza ein. Es ist unmittelbar hörbar, wie sich Dirigent und Orchester, aus vielen gemeinsamen Konzertprojekten vertraut, aufeinander verlassen können. Heras-Casado lässt, körperelastisch, gleichsam sportiv tänzerisch fokussiert, das Orchester in romantisch eingewobenen Klangstufen brillieren. Sein Dirigat folgt einer akzentuierten Holzbläser-Dramaturgie. Flöte und Oboe jubilieren mit warmer Klangfülle. Dezent vom Blech zurückhaltend begleitet, geriert sich die Ouvertüre zu einer hamonischen Wohlfühl- Suite.

Mit vier imposanten Takten eröffnet die 6.Sinfonie. Orchestertutti, begleitet von Flöte und Klarinette, modellieren ein melodisches Material in opernhafter Stretta. Heras-Casados Hände modellieren Tanzformen, die Schuberts Musik zu einer romantisch rhythmisierten Pop Music transformieren. Er bewegt sich mit nickenden Kopfbewegungen ins Orchester sowie geschmeidig wiegender Körperhaltung wie auf einem Dance-Floor, der problemlos das 19. Mit dem 21.Jahrhundert zu verbindet.

Allegro moderato entwickelt sich zu einer musikalisch zauberhaften Gelassenheit. Triumphalische Fanfaren der Trompeten und wuchtige rhythmische Figuren des vollen Orchesters kontrastieren beschauliche Romanzenmelodik. Längere motorische Passagen hemmen Schuberts komponierte Schwerelosigkeit eines Tagträumers nicht in ihrer zart gestimmten Schreittanz-Symphonik. Mitunter gibt Heras-Casados seiner Inszenierung als jugendlich kraftvoller Dirigent einen selbstverliebten, irgendwie allerdings auch sympathischen Überschuss.

Mit Ein Sommernachtstraum op. 61 nach der Pause geht unterschwellig ein merkwürdiger Riss durch das Konzertprogramm. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass die hohe musikalische Qualität von Mendelssohn Bartholdys Komposition (mit 15 Satzformaten) in einem einen markanten Unterschied zu den fragmentarischen Shakespeare-Texten steht. Ohne auf eine genauere Textanalyse einzugehen, verhallt die schauspielerische Text-Interpretation von Max Urlacher teilweise unhörbar selbst dann, wenn er ins mobile Stand-Mikrophon spricht. Noch extremere Text-Unverständlichkeit, wenn er sich einer Seite des Raumes zuwendet und der anderen seinen Rücken.

Ob akustische Rahmenbedingungen besser zwischen Musik und Sprechen justiert werden könnten, lässt sich nicht beurteilen. Pucks fragende Umschau – Welch hausback’nes Volk macht sich hier breit? – artikuliert diesbezüglich eine amüsant ironische, augenzwinkernde Unmittelbarkeit. Fortgesetzt transmittiert sie Urlachers Profession: Schauspieler! Ich will Hörer sein. Keine Schauspieler, eine Schar von Handwerksleuten…

Der RIAS Kammerchor mit den Solistinnen Mi-Young Kim (Sopran) und Anna Schaumlöffel (Mezzosopran) steuern immer wieder verlässlich bekannte Singinseln an. Die vielfach dem Sommernachtstraum attestierte ungewöhnliche Offenheit der Form bleibt in dieser Aufführung trotzdem nur eine Ahnung. Heras-Casado und das Barockorchester bleiben in Ansätzen stecken, den spukhaft romantischen Klang mit den Text-Interruption harmonisch zu verbinden.

Die Mehrheit des Konzertpublikums erlebt (und hört?) das anders. Großer Applaus für alle.

08.05.23

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Tod auf dem Rummelplatz

Die Staatsoper Hamburg feiert ein La-Traviata-Jubiläum der besonderen Art. Die Inszenierung von Johannes Erath besticht auch zehn Jahre nach ihrer Premiere mit ihrer dramaturgischen Ästhetik. Erfrischend klar, in keiner Phase auch nur ansatzweise ein verstaubtes Repertoirestück.

Erath übersetzt die Geschichte der Vom-Weg-Abgekommenen nicht in eine lasziv kränkliche Zauberberg-Apotheose nach Thomas Mann. Seine Inszenierung ist vielmehr vom Geist des Federico-Fellini-Kinos inspiriert. Kein Sanatorium in luftigen, gesundheitsfördernden Berghöhen jenseits der Wirklichkeit in den Niederungen der Ebene (im Libretto als Salon in Violettas Haus bezeichnet), sondern ein verlassener Rummelplatz, wo noch bierselige Feierlaune in der Luft liegt. Während die Melancholie vergangener Lustbarkeiten alles umhüllt, hallt sie als Schattenrauschen nach. Schatten als metaphorisches Vexierspiel von Gegenwart und Vergangenheit beleuchtet Olaf Reese im Verlauf der Aufführung immer wieder narrativ in enger Abstimmung mit der Inszenierungsidee.

Der Vorhang geht auf. Ein Akkordeonist (Jakob Neubauer) spielt das Anfangsmotiv aus Verdis Oper als musikantischen Prolog. Ein Akrobat, eine Tänzerin, ein kleinwüchsiger Mann des Zirkus, ein Schausteller zitieren und reflektieren ein Figuren-Panoptikum in Form eines Tableau vivant, das an La Strada erinnert. Am Rand ist ein Auto-Scooter abgedeckt. Lang ist es her, dass er als Spaßmobil seinen festen Platz auf dem Rummelplatz hatte.

Im Vordergrund der minimalistischen Bühnenarchitektur von Annette Kurz liegt in einem stilisierten Grab die tote, an Schwindsucht gestorbene Violetta Valéry. Nach der Romanvorlage La Dame aux camélias von Alexandre Dumas d.J. wird in der Dramaturgie von Francis Hüsers die Geschichte vom Ende her erzählt. Mit La Traviata thematisiert Verdi erstmals musikdramatisch exemplarisch eine tagesaktuelle Geschichte um 1700. Es ist die der 23jährigen Prostituierte Marie Duplessis. Mit ihr werden Spielarten bürgerlicher Scheinmoral in die Öffentlichkeit auf eine Opernbühne geholt.

Gianpaolo Bisanti nimmt mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg die Akkordeon-Vorlage mit einem temperamentvoll akzentuierten Italianità-Feeling auf. Mit dezidierten Betonungen schwingen sich Dirigent und Orchester in eine empathisch szenengerechte Klangopulenz. Er dirigiert mit südlicher Empathie durchaus einverstanden und willig auf den unausweichlichen Szenenapplaus zu. Die dramatischen Stimmungswechsel von Liebe und Vertrauen sowie von Enttäuschung und Kapitulation bis zum todessüchtig vergeblich flackernden Hoffnungsschimmer klangmalt Bisanti mit fellinesken Breitwand-Audio-Optik.

Der verlassene Rummelplatz wird mit den dialogischen Fragmenten des Chors der Staatsoper Hamburg, unterstützt von einer zirzensisch spielenden Komparserie wiedererweckt. Die durchaus schwierige Aufgabe trotz des inszenatorisch geforderten Aktionismus präzis und punktgenau zu singen, erfüllt der Chor mit Bravour.

Aus dem Bühnenhimmel schweben Auto-Scooter herab. Laster, Lust, Vergnügen, alles, was Spaß macht, Genuss verspricht, wird vorgeführt. Amore e morte (so sollte die Oper ursprünglich heißen), die Manipulation von Frauen durch Männer, nimmt ihren Lauf. So wie es zurzeit Verdis gang und gäbe war. Und wie es auch heute, wenn auch subtiler, verdeckter immer noch nicht passe ist.

Unabhängig von der mit La Traviata seit ihrer zweiten Uraufführung 1854 weltweiten Eroberung der Opernbühnen, insbesondere  durch Verdis bühnen-wirksame  Arien-Ohrwurm-Kompositionen, stellt sich für jede Inszenierung, wie das Meneteke, der vom rechten Wege Abgekommenen interpretiert wird. Traviare aus dem Italienischen übersetzt, kann auch irreführen heißen. Erath fokussiert minutenlang das Licht der Auto-Scooter ins Publikum. Ein Gefühl einer Blendung, die zunehmend unerträglicher wird. Es wirkt wie eine Aufforderung, sich als Opernbesucher nicht aus der eigenen Verantwortung zu schleichen..

Verdi hat mit La Traviata eine Oper komponiert, die eine Nummernfolge von Arien und Duetten ist, die den dramatischen Sopranistinnen von Maria Callas bis Anna Netrebko schon immer reichlich Gelegenheit gab und gibt, zu glänzen. Ruth Iniesta ist eine im Vergleich mit ihren berühmten Vorgängerinnen eine eher atypische Violetta. Ihre relativ kleine Körpergröße, die erst im unmittelbaren Vergleich mit den anderen Protagonisten deutlich wird, steht eine vokale Präsenz ihres in den Höhen silbrig schimmernden Soprans sowie ein in den Mittellagen die Grenzen von Mezzosopran und Alt streifende Artikulation gegenüber.

Staunenswert, wie Iniesta zu einer außergewöhnlichen Violetta-Größe von Szene zu Szene wächst. Vibrierend nach Liebe, liegt wie ein Schatten matter Traurigkeit des Unausweichlichen in ihrer Stimme. Selbst in den narrativ eingestreuten Parlando-Passagen beschwört sie mit ihrer Stimme eindringlich Violettas Not zwischen Eros und Thanatos. Am Ende verbeugt sie sich nicht nur sichtlich gerührt von dem stürmischen Applaus. Lächelnd, gleichzeitig tief durchatmend sieht man ihr an, welche Kraftanstrengung diese Violetta von ihr fordert.

In der Rolle des zwischen von seinem Vater Giorgio verordneter, patriarchaler Familienverantwortung und der Liebe zu Violetta schwankenden Alfredo überzeugt Francesco Demuro mit gestalterischer Gesangskultur.Alfredo, der sich letztlich von der scheinheiligen Moraldominanz seines Übervaters ebenso wenig lösen kann, wie er unfähig ist, in den entscheidenden Momenten die Liebe als solche zu erkennen, geschweige denn, sie zu schützen. Es ist, als würde ihn seine Stimme instinktiv so führen, wie es in der Partitur steht. Demuro singt Alfredo in der Pose eines Troubadours als traurigen Helden mit in sich gebrochener Grandezza.

Als Alfredo Violetta im ersten Akt seine Liebe gesteht, sie im Duett Un di felice noch auf die Chance eines gemeinsamen Glücks hoffen, schwebt schon der Todesengel über der unheilbar Erkrankten. Die Auto-Scooter heben sich wieder; machen Platz für ein neues Glück. Aber nicht wie gehofft, wird mitnichten alles gut. Herbstblätter verstreut die Windmaschine ahnungsvoll über die Bühne.

In diesem Todesspiel charakterisiert der Bariton von Andrzej Dobber den Vater Giorgio Germont mit dunkel grundierten Akzenten. Die nicht nur die Liebe von Alfredo und Violetta, sondern letztlich die beschworene heilige Familie mordende Macht-Nachtseiten des Übervaters bringt Dobber in all ihrer Widersprüchlichkeit zur Geltung.

Eraths Inszenierung gibt eine zeitunabhängige, eine für ein jedes Leben relevante Frage mit auf den Weg nach Hause: Wohin kehren wir zurück, wenn wir wieder in dorthin kommen, wo wir einst zu neuen Ufern aufgebrochen sind? Eines scheint jedenfalls sicher. Nichts wird mehr so sein, wie es einst war.

Die Auto-Scooter senken sich wieder. Der Chor, fixiert als Marionetten-Figurentheater, besetzt noch einmal den Lustspielplatz. Vergeblich stößt Violetta die Rummelplatzbühne mit letzter Kraft von sich. Sie kehrt desillusioniert auf den Rummelplatz zurück und stirbt. Alfredo kommt zu spät. Game over!

Großer Applaus für einen außergewöhnlich inspirierten und inspirierenden Opernabend.

05.05.23

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Woman could it better

Niki de Saint Phalle lässt in Frankfurt die Massen in die Kunsthalle Schirn strömen wie zuvor schon ins Kunsthaus Zürich. So zart, so klein von Figurm war Niki de Saint Phalle eine Kämpferin ein Leben lang. Die Amazone mit dem Schießgewehr.

Ich schoss auf Papa / alle Männer / kleine Männer / große Männer / bedeutende Männer / dicke Männer / Männer / meinen Bruder / die Gesellschaft / die Kirche / den Konvent / die Schule / meine Familie / meine Mutter / alle Männer / Papa / mich selbst / … ich schoss, weil / das Spaß machte und mich gut fühlen ließ …, teilt sie 1961 programmatisch der Welt mit. Die von Männern dominierte Welt demaskiert sie radikal mit ihren Schießbildern. Unmissverständlich sowie widerständig selbstbewusst, radikal verstörend behauptet sie ihren Platz in der Gesellschaft: Statt Terroristin zu werden, wurde ich Terroristin der Kunst.

Mit Schießanzug (1962) neben Tableau tir, Schießbild (1961) gibt die Ausstellung den Takt vor. Vollmundig angekündigt als umfassende Überblicksausstellung mit sensationellen Bildern, Skulpturen und Zeichnungen, ist realiter in einem einzigen großen Raum nebst kleinem Vorraum eine gedrängte Häufung von Arbeiten zu erleben, die Niki de Saint Phalles umfangreiches und vielfältiges Werk letztlich nur als facettenartigen Ausschnitt präsentiert.

Dicht gedrängt schieben sich die Ausstellungsbesucher durch den Raum. Vorsichtig bedacht, niemandem auf die Füße zu treten oder gar die weißen Bodenmarkierungen zu übertreten. Angesichts der seit einiger Zeit grassierenden Angebote immersiver Ausstellungen, u.a. aktuell in der ehemaligen Gasgebläsehalle des Hochofengeländes Phoenix West, Dortmund (Phoenix des Lumières – Eine Überwältigung vom 29.01.2023), mag sich der eine oder andere, durchaus interessierte, aber nicht nur kunstaffine sondern ebenso Event orientierte Besucher fragen: Warum in einem solchen räumlichen Gedränge nur die Chance für einen kurzen, erhaschenden Blick auf das Ausstellungsobjekt zu haben, wo es freiere, vielleicht auch unterhaltsamere Erkundungsorte der Kunst gibt?

Dem Anspruch, eine für Niki de Saint Phalles Arbeiten relevante Ausstellungsarchitektur zu organisieren, wie sie mit der verstörenden Großskulptur Hon als Kathedrale 1966 von Moderna Museet in Stockholm programmatisch und vorbildhaft geschaffen worden ist und mit traditionellen Ausstellungsformen zu brechen, kann jene in der Schirn mit dem minimalen Raumangebot nicht gerecht werden.

Hon, durch deren gespreizte Beinen mit imaginierter Vagina in unmittelbarster Weise sich ein Zugang zu ihrem Kunst-Kosmos öffnete, entdeckt mit der Nana-Figur einen metaphorischen Projektions- und Reflexionsraum. Er ist mehr als nur eine künstlerisch verdichtete Feminismus-Attitüde. Von emanzipativen Bewegungen immer wieder instrumentalisiert, versteht Niki de Saint Phalle ihn nicht als ideologisch aufgeladenen Rückzugsort in eine innere, weibliche Welt. Sie beharrt auf die Mise-en-Scène des Weiblichen. Alle Macht den Nanas dieser Welt!

Malerei bleibt in ihrem Œuvre eine Episode. Sie will mehr, viel mehr. Sie sucht nach einer unmittelbareren, direkteren Art, sich auszudrücken, als monatelang… an meinen Ölbildern zu malen. Man kann dieses Statement als Anleitung und Orientierung beim Besuch der Ausstellung verstehen.

Die Assemblage Autel des femmes von 1964 bringt viel von dieser narrativen Radikalität zum Ausdruck. In ihr finden wütender Aufschrei gegen Gewalt – aufgeklebte Spielzeugflugzeuge zielen auf eine Gebärende – und fürsorglicher Schutz der Frauen zusammen. Der gebärdende Körper mutet wie eine Arche Noah für alle gefährdete Kreatur an.

Nur mit der Haltung, en passant Kunst zu betrachten, funktioniert bei Niki de Saint Phalles Werken nicht. Die deformierte Torso-Unmittelbarkeit von Lysistrata (1966), die ungeschönten Abrechnungen sowohl mit der Vaterfigur in Les fúnerailles du pére (1971) als auch mit der alle Emotionen verschlingenden Mutter – Bon appétit (robe mauve), 1980 -, lassen keine wirkliche Distanz beim Betrachten zu.

Man spürt angesichts der überdimensionierten Figuren aus Kunststoff, wie sie sich mit diesem Material letztlich bis zum Tode abgearbeitet hat. Es wirkt wie eine Ironie ihrer Arbeit, dass sie sich bei der Verarbeitung des Kunststoffs mit den dabei entstehenden giftigen Dämpfen gesundheitlich schwer geschädigt hat.

Nicht zuletzt in der kreativen Partnerschaft mit Jean Tinguley findet Niki de Saint Phalle trotz alledem auch eine Leichtigkeit des Seins. Mit Californian Diary (1994) in der Verbindung von Text und comic-artigen Zeichnungen markiert sie eine künstlerische Zäsur, die in den 1960ger Jahren mit parallelen Selbstbefragungen Why Don’t You Love Me? oder My Love What Shall I Do If You Die? zu einer leichteren, lebensfroh verspielteren Ausdrucksform und damit zu einem Weg aus ihren Dilemmata findet.

Die Ausstellung kann man insbesondere im Kontext der Zusammenarbeit mit Tinguely auch als Anregung nehmen, Niki de Saint Phalle im Außenraum neu zu entdecken. In Hannover oder Duisburg kann man ihren Spuren folgen. Wer in diesem Jahr zum Urlaub in die Toskana fährt, sollte nicht versäumen, den Tarotgarten in Capalbio zu besuchen.

My vision: A new world of joy, formuliert Niki de Saint Phalle – The crazy woman – in dem die Ausstellung begleitenden Dokumentarfilm ihre Haltung zu Kunst und Leben.

30.04.2023

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