Laios – Beckmanns grandiose Solo-Performance

Das Theaterprojekt Anthropolis – Ungeheuer. Stadt. Theben von Roland Schimmelpfennig in der Uraufführung des DeutschenSchauspielHauses Hamburg bewegt, erregt und verwirrt den Kopf und das Herz mit einer energetisch aufgeladenen Intensität kollektiver und solistischer Schauspielkunst (Anthropolis: Wer sind wir? vom 25.11.23).

Aufgeblättert in der Reihenfolge – Prolog/Dionysos – Laios – Ödipus – Jokaste – Antigone -, spannt die Inszenierung einen Bogen über mehr als 2.400 Jahren Zivilisationsgeschichte. Für die 49. Mülheimer Theatertage, die der seit Jahren wichtigsten Präsentation der besten neuen deutschsprachigen Stücke, haben die Juroren aus der Anthropolis-Penthalogie den Solitär Laios ausgewählt.

Laios geriert sich zu einem atemberaubenden Solo-Abend mit Lina Beckmann – neben dem tragischen König Laios ist sie auch Kreon, der Bruder von Jokaste als auch der antike Chor. Ihre Anverwandlung der einzelnen Charaktere entwickelt sich zu einem solistischen Parforceritt mit grotesken Untertönen. Im Publikumsgespräch nach der Aufführung betont Schimmelpfennig, dass dieser Laios-Text als Solo-Performance seiner Überzeugung von einem unzerstörbaren Theater am meisten gerecht wird.

Die Entstehungsgeschichte von Anthropolis ist vielleicht die direkteste, teilweise prophetisch unfassbarste Reflexion auf den pandemiebedingten Lockdown. Der offene Lebensraum Stadt wird im Frühjahr 2020 geschlossen. Diese bisher in der Gegenwart nicht gekannte (gelebte), übermächtige Wirklichkeit, erinnert sich die Dramaturgin Sybille Meier, rückt in Gesprächen Schimmelpfennigs mit der Regisseurin Karin Beier und dem Bühnenbildner Johannes Schütz die Geschichte der griechischen Polis in den Mittelpunkt.

Schimmelpfennig überträgt den Mythos von der Gründung der Stadt zum Ausgangspunkt der europäischen Zivilisation in assoziativer Anlehnung an Erzählungen und Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides. Die Dramaturgie der griechischen Tragödie mit ihrer Divergenz von Gott und Mensch, die sich auf Natur/Tier und Mensch verschiebt, entwickelt sich in Schimmelpfennigs Text zu einer aktualisierten Geschichte der Menschheit heute. In bisher nie gekannten Dimensionen hat sie in Verantwortung für einen Lebensraum für alle, für Tiere, Pflanzen und letztlich für sich selbst Schuld auf sich geladen.

Die griechische Mythologie mit ihrer blindwütigen, lernblinden Abfolge von Aufbau, Zerstörung, Wiederaufbau, neuerlicher Zerstörung, bis in die Gegenwart (Überfall Russlands auf die  Ukraine sowie die militärisch politische, von der Hamas instrumentalisierte Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästinensern) geht immer weiter so, erzählt Schimmelpfennig mit einem reduzierten Sprachrhythmus. Objektiv-Reihungen, in denen sich das Subjekt als ein Ich-Wir-Palimpsest entziffert.

Laios, gequält von dem Orakel (hör auf, hör auf, hör auf, wann hört das auf, es hört nicht auf), das ihm einen inzestuös mordenden Sohn, Ödipus ankündigt, halluziniert eine Katze am Himmel. Die Katze ist eine Frau mit einem grün schillernden Kleid, wie es Europa trug, als der Stier sie im Prolog entführte. Dieser Laios schreit mit Beckmann verzweifelt und vergebens nach Erlösung. Das nimmt einfach kein Ende….von nun an singt das Ding am Himmel, die Katze, in den Köpfen aller Menschen in der Stadt, Tag für Tag und Jahr für Jahr.

Beckmann transformiert mit ihrem Spiel Schimmelpfennigs Sprachtext zu einem konvulsivisch mäandrierenden Hörerlebnis. Im Publikumsgespräch gefragt, wie sie sich in und durch diese Text-Collage orientiert, denkt sie kurz nach und lacht: Auf Zack sein – und einfach machen…

In 90 Minuten meistert sie berserkerhaft und poetisch zugleich steile Berghänge, taucht in tiefe Flüsse ein, verweilt in rauschhaft stillen Ebenen. Changierend zwischen Erzählerin, Chor der Thebaner, Laios, dem von sich selbst überraschten König, Jokaste, die wie nebenbei seine Frau und Königin wird, spannt Beckmann einen mythischen Bilderbogen, der in Kreisbewegungen immer wieder zum Anfang zurückkehrt: Eine schmale, staubige Straße, weit entfernt, die Stadt….auf der Straße ein Mann, ein Mann auf einem Wagen….Am Himmel keine einzige Wolke. Ein Vogel. Das retardierende Moment, dass es kein Vogel, sondern eine Katze, eine Frau ist, assoziiert ein Menetekel ganz von dieser Welt.

Schimmelpfennigs am Ende in der zum Prolog identischen Textzeile räsoniert in Beiers Inszenierung Laios Angst wie im Angessicht eines Damoklesschwertes: Bist du das? Beckmann geht in ihre Ausgangsposition zur hinteren Bühnenwand. Lautstarker Applaus holt sie in den Vordergrund zurück. Solo einer Schauspielerin in ihrer eigenen Liga!

10.05.24

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Please touch! – Do not touch?

Es sind gegensätzliche Wahrnehmungen, die den Ausstellungen Tony Cragg. Please touch! und Size Matters. Größe in der Fotografie im Kunstpalast Düsseldorf Raum geben. Während in der Cragg-Schau das in Kunstausstellungen weltweit übliche, beinahe programmatische Verbot – Die Kunstwerke nicht berühren! – aufgehoben ist, wird es wenige Meter entfernt im selbigen Haus eine Etage tiefer bei Size Matters wieder in Kraft gesetzt.

Einerseits ist der Kunstpalast stolz auf die Einrichtung einer ersten umfangreichen Präsentation in einem Museum, in der sämtliche Bildwerke ertastet und erfühlt werden dürfen. Andererseits gilt nebenan wieder Please, Do not touch. Konsequent auch für zwei Cragg-Skulpturen, die sich in die formatierten Größenverschiebungen der ausgestellten Fotografien eingeschlichen zu haben scheinen. Ebenso ist ehrfurchtsvoller Abstand vor einem Stapel privater (?), festverschnürter Fotoalben geboten.

Dass für Cragg die Wahrnehmung seiner Arbeiten eine immens sinnliche, existentielle ist, lässt sich in der Ausstellung vielfach beobachten. Eine Gruppe älterer Damen stimmt darin überein, dass in den aus Holz gefertigten Arbeiten eine angenehme Wärme zu spüren ist. Das mache sie zugänglicher, auch sympathischer, als würde man einen Bekannten freudig begrüßen und umarmen. Das tun tatsächlich viele Ausstellungsbesucher. Es ist, als würde das hölzerne Please touch! gegenüber der unmittelbar erfahrenen Kühle von Glas und Stahl eine Sehnsucht erfüllen, die mit dieser Unmittelbarkeit ansonsten auf Distanz der visuellen oder auditiven Wahrnehmung reduziert ist.

Please touch!ist ein Renner, ein Publikumsmagnet, der wenige Wochen vor dem Ausstellungsende schon mehr als 100.000 Besucher angezogen hat. Eine Relevanz der öffentlichen Zustimmung, die ansonsten nur entsprechend kalkulierte und gehypte Blockbuster-Ausstellungen für sich in Anspruch nehmen können. Die Botschaft einer Teilhabe des Publikums mit allen Sinnen in einer Kunstausstellung ist offensichtlich. Und dass sie schnell an ihre Grenzen, auch die des Eigentumsrechts von vor allem privaten Sammlern stoßen kann.

Dabei ist anzumerken (und anzuerkennen), dass eine Konkurrenz öffentlich geförderter Häuser mit ihrem vergleichsweise bescheidenen Ankaufsbudget nicht wirklich gegeben ist. Ihr Kapital sind die häufig über mehr als 100 Jahre gesammelten Werke aus finanziell besseren Zeiten und Donationen. Von daher verbieten konservatorische Gründe, respektive Werterhaltung für Bereitstellung und gegenseitigen Austausch für Ausstellungen eine generelle Freigabe.

Nichtsdestotrotz ist nach dieser für den Besucher umfassend wahrnehmbaren Ausstellungserfahrung die Frage nach Kommunikation und Interaktion zwischen Kunstwerk, Ausstellungsort und den Bedürfnissen der Besucher, mit diesem Perspektivenwechsel geradezu provoziert, mehr in den Blickpunkt geraten als bisher.

In dem die Ausstellung begleitenden Interview sind sich Generaldirektor Felix Krämer und Cragg anfänglich einig. Durch Berührung werden die Arbeiten nicht besser. Eigentlich… Für Cragg selbst spielt dieser Aspekt bei der Arbeit an seinen Werken keine Rolle. Wie sich das anfühlt? So denke ich nicht. Mir ist die visuelle Wahrnehmung das Eigentliche….Dass Menschen (Sammler) mit meinen Arbeiten leben wollen, ist schon verrückt.

Verrückt geht auch, wie in Size Matters zu erfahren ist, ganz anders. Maßstäbe im fotografischen Bearbeitungsprozess zu verrücken, kann man als Sinnbild verrückter Bedeutungsverschiebungen verstehen. Was groß und was klein, was richtig und was falsch ist, öffnet variable Sehräume. Das Authentische misst sich mit Momenten von Reflexion und Assoziation. Die Formate der Bildrezeption spielen verrückt. Absichtsvoll keine Dokumentation einer Realität, die letztlich nur subjektiv sein kann und damit allein für den Fotografierenden in diesem einen Moment seine Realität sein kann. Die Realität in der Kunst ist die Imagination.

Size Matters bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Dinge der Weltwahrnehmung im Großen wie im Kleinen als eine Befreiung von einer suggerierten Eindeutigkeit zu sehen. Denn, diese gibt es nicht. Kontrolle über die Dinge haben zu wollen, ist vielleicht das größte Missverständnis einer sich aufgeklärt gebenden Gesellschaft.

09.05.24
photo streaming Tony Cragg

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Lichter in der Nacht

Fred Hersch – Silent.Listening © ECM 2024

Silent. Listening, bei ECM veröffentlicht, kann man wie eine Selbstbeschreibung des Pianisten Fred Hersch lesen. Seit Jahren einer der interessantesten Jazz-Pianisten weltweit, ist er kein lärmender Lautsprecher. Schweigen, zuhören, in sich hinein lauschen. Softly, As In A Morning Sunrise gestimmt, schlägt er mit dem so titelnden, vorletzten Song einen kreativ hoffnungsvollen Bogen zurück zum ersten mit Star-Crossed Lovers.

Hersch versichert nicht nur den vom Unglück verfolgten Liebenden auch in dunklen Zeiten einen poetisch klangmalenden Hoffnungsschimmer. Licht durchflutet die Nacht mit impressionistischen Facetten (Night Tide Light). Er versteht Silent.Listening programmatisch als ein musikalisches Statement von Anfang bis Ende. Seine Improvisationen lauschen als Storytelling music in die Nacht. Den Blick zum Himmel gewendet, lädt seine Musik ein, mit ihm zu wagen, nach den Sternen zu greifen (Starlight).

Spontan komponierte Strukturen assoziieren kontrapunktisch gebaute Klangräume. Eine Meditation in zeitgenössischen Klangwelten vornehmlich mit eigenen Kompositionen. Standards durchmischen in freien Improvisationen die Tracks. Sie weisen ins Offene, ins Unvorhersehbare, ins Fließende: Panta rhei. Ein Handeln wider besseres Wissen absichtsvoll wie in Akrasia zu thematisieren, gehört zu Herschs musikalischem Selbstverständnis. Nichts unbedingt bis ins kleinste Detail kontrollieren zu wollen. Vielmehr gleich den Aeonen der antiken Philosophie den Klängen ihre spirituelle Essenz abzugewinnen (Aeon).

Die schon für die ECM-Produktion The Song Is You mit Enrico Rava (2021) verantwortliche großartige Akustik des Auditorio Stelio Molo RSI in Lugano war auch für diese Solo-Aufnahme sein absoluter Wunschkandidat. Sie ist, so Hersch, in meinen Ohren nahezu perfekt. Eine Perfektion, die keiner Geste als missverstandene L’art pour l’art nachläuft. Mit Little Song, ursprünglich für das Duo mit Rava geschrieben, löst er ein Selbstverssprechen ein. Mehr vom Inneren des Klaviers herausspielen, nennt es Hersch.

Inwieweit die Hörer dieser CD seinen finalen Winter Of My Discontent wörtlich nehmen, mögen sie als Hörende selbst herausfinden: Silent.Listening.

08.05.2025

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Fado – Ausfahrt Bottrop, A 42

Boa noite! Que bom que você veio hoje! Ich freue mich, wieder im Ruhrgebiet zu sein. Ausfahrt Bottrop, A 42. Temperatmentvoll entert Telmo Pires, einer der wenigen männlichen Vertreter der zeitgenössischen Fado-Szene, die Bühne des Ebertbads in Oberhausen. Mit Rui Poço (Portugiesische Gitarre), Miguel Silva (Klassische Gitarre) und Yami Aloelela (E-Bass) folgt er in mehr als zwei Stunden seiner Fado-Spur: Através do Fado. 1952 in Nord-Portugal geboren, zieht seine Familie wenige Jahre später ins Ruhrgebiet. Er wächst dort zweisprachig auf. Macht am Heinrich-Heine-Gymnasium in Bottrop das Abitur. Gesangs- und Schauspielausbildung führen ihn zu seinen portugiesischen Wurzeln zurück. Dem Fado, einer über Jahrhunderte gewachsene Kultur, einem Lebensgefühl, getragen von arabischen Elementen, vielen Tonhöhensprüngen, bevorzugt in Moll, widmet er sich als Fadista mit Überzeugung.

Dass der Fado mehr ist als nur wehmütige Klage, die sich im Weltschmerz (Saudade) verzehrt, unterstreicht er mit kulturell konnotierten Reflexionen, einleitend und zwischen seinen Gesängen mit Emphase. Fado zu singen bedeutet für ihn im heutigen Sinne, ein soziales Medium zu bedienen und zu nutzen. Pires Liedtexte setzen Beziehung zu den Lebensbedingungen in der portugiesischen Diktatur, die von 1932 bis 1974 andauerte. Wenige Tage vor dem Konzert wurde die Erinnerung an die Befreiung von ihr vor 50 Jahren durch die inzwischen zu einem charismatisch aufgeladenen Symbol gewordene Nelkenrevolution zu einem die Gesellschaft beherrschenden Gefühl.

Eine Diktatur kann vieles verbieten, allein die Liebe nicht. Der Fado wurde für die vielen Analphabeten so während dieser Zwangsherrschaft zu einer Zeitung. Sie konnten sie nicht lesen, aber hören, singen und tanzen. Ich komme nicht aus dem Fado, beteuert Pires. Der Fado ist mit seiner Mutter, vor allem mit seiner Großmutter zu ihm zurückgekommen. Mit Morena singt er eine Hommage an sie und ein Bekenntnis zur Kraft des Fado überhaupt.

Mutter, ich besinge die Nacht, weil mich der Tag enttäuscht. Das Schicksalhafte des Fado prägt seine Performance von Gesang, Tanz und Erzählung. Wie seinen Müttern ist er dem großartigen Lehrmeister und Fadista Carlos do Carmo (1939-2021) verpflichtet. Fado, Credo und Plädoyer für ein freies Leben und unbedingte Liebe, zelebriert Pires kultiviert und sportiv zugleich. Klug in der Reflexion der kulturellen Kontexte, geschmeidig biegsam in seiner männlichen Körperhaftigkeit.

Pires zieht die Zuhörer – Die überwiegende Mehrheit sind Zuhörerinnen! – nicht nur mit seinem authentischen Gesang in den Bann. Es sind mitunter Anekdoten, die mit Witz und Ironie spielen, aber einen Kern freilegen, als würde man einen Apfel schälen. Dass in deutschen Supermärkten das Sortiment an portugiesischen Weinen eher klein ist, hat, so Pires, einen einfachen Grund: Wir exportieren wenig. Wir trinken ihn selbst. Somit gut gelaunt, singt man traurige Lieder.

Die dem Fado eigene Traurigkeitsmelodik grundiert entsprechend Pires‘ Gesang. Gleichzeitig überwiegt in ihm die Hoffnung, dass Liebe in Frieden alles Begrenzende überwinden kann. Er schüttet Füllhörner von Glückshormonen aus.

Davon könnte es noch mehr geben, wenn die Musiker an seiner Seite mehr die Chance hätten oder einforderten, seine narrative Performance mitzugestalten. Pires‘ Erklärung zu Beginn des Konzerts, sie würden von seinen Erzählungen kein Wort Deutsch verstehen, macht sie zu einer Staffage allein professionell spielender Musiker. Schwer zu sagen, wie sich das für sie anfühlt.

05.05.24
photo streaming Telmo Pires

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Klangfreiheit in einer Architektur der Freiheit

Jazz-Musik ist weltweit einen langen Weg gegangen. Von den Ursprüngen einer liturgisch inspirierten Gospel-Musik in den Kirchen der amerikanischen schwarzen Ghettos ist sie über dunkle Kneipen nach 100 Jahren längst in Konzertsälen angekommen. Mit dem Konzert des Michael Wollny Trios in der Christuskirche Bochum schließt sich dieser Kreis auf selbstverständliche Weise. Der Aufstieg aus den düsteren Jazz-Kellern nach oben ins klassisch getönte Licht ist unübersehbar wie auch unüberhörbar. Aber, und das ist das Besondere am Jazz, er ist nach wie vor in vielen Räumen zuhause.

Die Architektur der Freiheit, die der Christuskirche Bochum vielfach zugeschrieben worden ist, übersetzt Michael Wollny mit Tim Lefebre (b) und Eric Schäfer (dr) in eine außerordentliche Klangfreiheit. In zwei Sets von jeweils 40 Minuten entwickeln sie einen Sound, der keine elektronische Aufrüstung braucht. Das reine Klavier, der Klassik-Kontrabass, das Schlagzeug pur. Spannungsreiche Harmonik verbunden mit klassischen Musik-Formaten bestimmt ihr gemeinsames Spiel, das auf Arrangements von Jazz-Standards und Eigenkompositionen aufbaut. Dass sie sich frühzeitig mit zeitgenössischer Musik und Improvisation auseinandergesetzt haben, ist mit jeder musikalischen Idee, die vor allem auf Wollnys Kreativität gründet, hörbar sowie mitunter körperlich spürbar.

Wollny, schon 2015 in Paris als bester europäischer Jazzmusiker von Lacadémie du Jazz ausgezeichnet, hat vielfach bekannt, dass er Musik aus dem Moment heraus spielt. Die ihm von der Kritik zugeschriebenen Elogen – The most exciting piano trio in Europe (The Times) oder Der vollkommene Klaviermeister (FAZ) – ließen sich mit dem Konzert in Bochum auf der Klaviatur der Superlative weiterschreiben.

Mit dem von einem mystischen Zen-Buddhismus umflorten Schaefer an den Drums und mit Lefebvre – für Wollny einer der weltbesten Bassisten, der immer mit einem Fuß in der Welt des Soundprocessing stehe – hat er kongeniale Partner an seiner Seite. In der Bochumer Kirche der Kulturen, wie sie sich selbst als Begegnungsort verschiedener Musiken versteht, inszeniert das Trio eine musikalische Performance, die natürlich und selbstverständlich einnimmt. Sie folgt keiner Dramaturgie, die um die Zuneigung des Publikums buhlen müsste. Aus der Vielfalt der Ideen generieren sich situativ in einzelnen Konzertmomenten Wollnys Kompositionen zu einem Ping-Pong-Notenblatt-Spiel.

Eine Performance, von Wollny gestisch angezeigt, die sich in Improvisations-Kaskaden zu einem enigmatischen Soundkosmos verdichtet. Und sich umstandslos in elegischen Phrasierungen öffnet. Vehement fegt die rechte Hand über die Klaviatur, während er mit der linken in die Klaviersaiten greift. Aufgeladen mit gebrochenen Akkorden, stürmt das Trio energisch vorwärts, kulminiert, beruhigt fast übergangslos, in volksliedhafter Poesie. Oder im Stil der Gymnopédies von Erik Satie schwelgend, schwingt der Sound, gleichsam frei beseelt, im Raum. Ein Spiel, das dem Kontrollverlust einen Hörraum gibt, um sich in dem Moment von den musikalischen Expeditionen der drei Musiker  heimsuchen zu lassen.

Das Michael Wollny Trio beatmet Klangräume in allen Dimensionen als freies Improvisieren verbunden mit liedhaften und klassischen Referenzen. Sie klangmalen poetisch, wie sie den Kanon von Klassik, Jazz und Volksmusik aufmischen. Die Konzertbesucher sind sehr einverstanden mit diesen Soundabenteuern.

30.04.24
photo streaming Michael Wollny Trio

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Eine Wiederaufnahme, die ihren Kultstatus referenziert

Barrie Kosky (Jahrgang 1967) gehört zu den interessantesten Opernregisseuren seiner Generation. Als kreativer Künstler mit dem Image eines Agent Provocateur lassen seine Inszenierungen nichts aus. Sie können verstören, von der Kritik verrissen, vom Publikum abgelehnt werden. Sie sind immer ein Ereignis, das Spuren hinterlässt.

Diese Spur zieht sich von der Komischen Oper Berlin, wo er von 2012 bis zum letzten Jahr Intendant und Chefregisseur war, über das Opernhaus Zürich, die Bayreuther Festspiele bis ans Aalto Musiktheater Essen. Seine Essener Wagner-Inszenierung Tristan und Isolde von 2006 gilt inzwischen als Referenzinszenierung mit Kultstatus. Jetzt gibt es eine bemerkenswerte Wiederaufnahme mit Catherine Foster und Bryan Register, aufauthentische in Szene gesetzt von Marijke Malitius.

Unter der musikalischen Leitung von GMD Andrea Sanguineti ist mit den Essener Philharmonikern und dem Opernchor des Aalto-Theater (von Klaas-Jan de Groot situativ vom 1.Rang gut vorbereitet) ein Revival zu erleben, das so frisch und überzeugend wie vor 18 Jahren für sich einnimmt. Unüberhörbar Richard WagnerEs ist der Gipfel meiner bisherigen Kunst – in exquisiter Hör-Qualitätshöhe die Interpretation von Kosky – Tristan und Isolde ist eine Fuge der Sinne.

Mit Tristan und Isolde hat Wagner eine Zäsur in der Musikgeschichte gesetzt, die ihre Wirkung bis heute zeitigt. Nicht nur, weil seine kompositorische Motiv-Technik hier in besonderer Weise zu einer tiefen Emotionalität führt. Mit Tristan und Isolde machte er seine Liebe zu Mathilde Wesendonck öffentlich. Auch zu einem öffentlichen Spektakel.

Denn Wagner wäre nicht Wagner, wenn er nicht mitunter auf geradezu diabolische Art und Weise bereit gewesen wäre, Vertrauen und Liebe zu ihm nahestehenden Menschen seiner Überzeugung vom eigenen Genie zu opfern. Nicht zuletzt aus den damit verbundenen physischen und psychischen Verwundungen, ihren emotionalen Fallhöhen, beziehen seine Opern eine suggestive Transzendenz, der man sich beim Hören kaum entziehen kann.

Kosky hat sich von Klaus Grünberg eine Guckkastenbühne bauen lassen. Wenn zu den Paar-Konstellationen von Isolde und Brangäne oder Isolde und Tristan weitere Akteure (Kurwenal, Melot, Marke) hinzukommen, wird der Raum eng. Es ist, als würde er aus allen Nähten platzen und den Menschen die Luft zum Atmen nehmen. Die Inszenierung fokussiert und distanziert gleichermassen. Dem Auge bieten sich aufgrund eines fehlenden weiten Bühnengrunds kaum Ablenkungsmöglichkeiten. Das Hören bietet keine Chance, sich zu ver-hören. Der Guckkasten fokussiert alle Aufmerksamkeit. Die räumliche Kleinheit fordert Konzentration im hohen Maße. Andererseits wird durch die kleine Bühne auf der großen Bühne eine raumgreifend ausschweifende Identifikation mit Wagners Musikdrama kreativ unterlaufen.

Catherine Foster bietet als Isolde ein der Komposition würdiges kongeniales Erlebnis. Getragen von dramatisch gestaltetem Sopran, der durch alle Höhen und Tiefen scheinbar mühelos ausdrucksvoll auf- und absteigt, sowie einem leidenschaftlich inspirierenden Spiel mit einer überwältigenden Bühnenpräsenz. Die Foster, die Wagner-Sängerin unserer Zeit.

Neben diesem Monument zu bestehen, ist für alle Sänger auf allen Bühnen eine Herausforderung. Register nimmt sie mit Respekt im ersten Akt an. Sein lyrischer Tenor befindet sich teilweise noch im Modus des Suchens. Viel Kraftaufwand, wo mitunter weniger mehr wäre. Im zentralen Liebesduett des zweiten Aktes mit Foster verliert sich seine Artikulation passagenweise in den Ecken des sich drehenden Guckkastens.

Alles ist in Bewegung, nichts mehr an seinem angestammten Platz, oben und unten vertauscht, auf den Kopf gestellt. Oh, süße Nacht! Ew’ge Nacht! Hehr erhab’ne Liebes-Nacht! Eine exzellente Koinzidenz der musik-dramatischen Perspektive von Gesang und Bewegung, die die Zuhörer unwillkürlich in Trance versetzt. Mit König Markes Auftritt (Sebastian Pilgrim mit wortdeutlichem, gelegentlich untertourigem Bass)bleibtdie Bühne nach einer und einer halben Umdrehung kopfüber stehen. No exit! Der nachtverschattete Tristan-Isolde-Raum ist nicht mehr von dieser Welt.

Koskys Inszenierung räumt der Mezzosopranistin Bettina Ranch als Brangäne sowie dem Bariton Heiko Trinsinger als Kurwenal viel Platz zur Rollengestaltung ein. Beide überzeugen in diesem Setting stimmlich und spielerisch. Ranchs Mezzosopran hat ein tief sattes, dunkles Timbre. Wachet auf! Schon weicht dem Tag die Nacht! Als Brangäne mahnt sie Isolde nicht nur zur Vorsicht, sondern reagiert für Isolde dort, wo jene den Überblick verliert. Ähnlich vereinigt Trinsingers Bariton einen kraftvollen und zugleich lyrischen Ton.

Mit Fosters beseelt gesungenem Liebestod-Solo setzt die Inszenierung einen nachdenklichen Schlussakkord. Nach Ende des Solos steht Isolde auf und legt sich zum sterbenden Tristan. Mit dem Verlassen des Wolken-Kuckucksheim des Guckkastens ist eine Liebe unter den gegebenen Umständen nicht mehr möglich, nicht mehr lebensfähig. Die Zukunftshoffnung signalisierenden Lämmer sind schon vorher von verschatteten (Hirten-?) Figuren von der Lebens-Bühne abgeräumt worden.

Dass der Applaus für Foster alle anderen um Phon-Stärken übertönt, war zu erwarten. Dass sie ihren Bühnenpartner Register bei den mehrfachen Vorhängen keines Blickes würdigt, hinterlässt einen nachdenklich fragenden Eindruck.

29.04.24  

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Noch immer die gleiche Frisur

Die Bühne im Schauspielhaus Bochum ist offen. Im hellen Bühnenlicht sind mehrere leere Bettgestelle zu sehen. Über ihnen Screens, die mit ihren schwarzen Flächen dunkel die Rückwand kontrastieren. Nicht gerade ein Wohnzimmer, raunt eine Besucherin im Parkett ihrer Nachbarin zu.

Es ist wenige Minuten vor 20 Uhr, und die Aufführung Die kahle Sängerin von Eugène Ionesco hat offiziell noch nicht wirklich begonnen. Als es dann losgeht, haben Mr. und Mrs. Smith schon lange in der ersten Reihe gesessen. Sind von Anfang mit den Theaterbesuchern Teil der Inszenierung von Johan Simons. Ob sie die genannte Bemerkung im Parkett gehört haben, muss unbeantwortet bleiben. Aber dass das, was sich in den nächsten 90 Minuten abspielt, nicht nur eine Lachsalven befeuernde Komödie ist, die man sich, in die Sitzpolster gelehnt, amüsiert betrachtet, klärt sich sehr schnell.

Simons hat die clownesk märchenhaft spielende Dienerin mit Konstantin Bühler und den Feuerwehrmann alias Feuerwehrfrau mit der eher zierlichen Danai Chatzipetrou sowie Mrs. Smith mit der farbigen Niederländerin Stacyian Jackson besetzt. Dies kann als eine Option in der zurzeit kontrovers geführten Debatte um queere Identitäten gesehen werden. Muss nicht, passt aber in die Debattenkultur.

Jackson erhebt sich, gekleidet mit einem roten tief dekolletierten Abendkleid mit einer langen Schleppe aus der ersten Parkettreihe. Genüsslich schlürft sie ein Eis. Schaut selbstbewusst kokettierend ins Publikum. Stefan Hunstein (Mr. Smith) gestikuliert, noch sitzend, mit dem Versuch, dem Verhalten seiner Frau Einhalt zu gebieten. Doch von Anfang an ist klar, dass er mit seiner normierten Männlichkeit gegen sie keine Chance hat.

Mrs. Smith spielt Jackson spielt in der Rolle einer antiken Hetäre souverän auf der Klaviatur erotisch kategorischer Selbstinszenierung, die Mr. Smith am Nasenring als Hampelmann durch Szenen schleift. Geschminkt mit einen gestutzten Schnurrbart und langen wirr grauen Haaren, assoziiert dieser die Figur eines aus der Zeit gefallenen Diktators. Handgreiflich ihn mit ihrer Schleppe schlagend, treibt Mrs. Smith ihn vorwärts. Später wird sie, als die Screens verschiedene, vorwärts und rückwärts laufende Zeit zeigen, sagen: Die Uhren gehen alle falsch. Sie zeigen immer das Gegenteil.

Ionescos Theaterstück, von ihm als Anti-Stück bezeichnet, hinterfragt die Konventionen des Theaters nach den Schrecknissen des Zweiten Weltkriegs. Eine Tragödie der Sprache wird sprachmächtig. Omnipräsente, fatale Alltagsgeschwätzigkeit wird zum ideologischen Akteur. Hinter der Wortleichen produzierenden Kakophonie werden Tragödien des Menschlichen sichtbar. Sprache ist immer verräterisch. Entleert durch Plattitüden, rhetorische Worthülsen und Gemeinplätze, wird die Sprache für Ionesco zum Ekel einer unnennbaren Traurigkeit.

Der Abend bei den Smiths kreist in eintöniger Banalität. Beginnend mit Jacksons Monolog über die Qualitäten des Salatöls verschiedener Läden bei ihnen um die Ecke, reagiert Hunstein mit seinen vergeblichen Versuchen, auch etwas zum Gespräch beizutragen. Sie reden aneinander vorbei, sie streiten um Bagatellen und versöhnen sich: Warum gibt man bei den standesamtlichen Nachrichten in der Zeitung immer nur das Alter der Toten und nie das Alter der Neugeborenen an? Mrs. Smith macht mit jedem Satz, mit jedem Gestus ihren Ehemann zu einem lächerlichen Popanz. Jener verbiegt sich in hilflosen Posen. Er bedauert sich selbst, ohne einen Ausweg zu finden.

Dass Simons das Stück vor dem Hintergrund der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft mit ihren im Raum stehenden Fragen nach Schuld und Unschuld, von richtig oder falsch, von Liebe und Schmerz inszeniert und gleichzeitig das Heute reflektiert, unterstreichen disparate Screen-Einblendungen. Keine gemütlich biedere Wohnzimmerkulisse, sondern das Krankenlager einer ermüdeten Gesellschaft.

Die tickenden, irrlichternden Uhrzeiten wechseln mit Werbespots der 1950/60er Jahre, unterlegt mit französischen Chanson-Liedchen sowie Sekunden-Bildrauschen und flackernden Bildern von Kriegsbombern. Werbe-Botschaften, wie Zucker zaubert, das Hohelied von der Persil-Reinigungskraft oder das mit Afri Cola, der tote Punkt überwunden werden könne, die ähnlich absurd sind, wie die Gespräche, zeigen biedere Hausfrauenseligkeit.

Mit dem verspäteten Eintreffen von Mrs. und Mr. Martin (Jele Brückner und Marius Huth) reflektiert Simons die Perspektive eines spät-dadaistischen Spektakels. Die Wanduhr dreht sich vorwärts und rückwärts. Chronos, die gemessene Zeit, verliert sich als Kairos sinnentleert in nämlichem Werbe-Sprech. Brückner und Huth spielen in bester Slapstick-Manier in minutenlangen Variationen – Sonderbar! Aber möglich! Aber dann…!…? – sich selbst als das Paar, das sie schon seit Jahren sind. Vergessen wir alles, Cherie, was zwischen uns nicht gewesen ist … und leben wir wie zuvor. Brückner charakterisiert Mrs. Martin als Überraschungspaket ihrer selbst mit verschwörerischem, unbedarftem Liebreiz. Energische Kehrtwenden in verschwenderischem Selbstbewusstsein eingeschlossen. Huth gibt die meinungsselige Überraschung seiner selbst.

Mit dem Feuerwehrmann steigern sich die wortreichen Belanglosigkeiten in XXL-Formate von Anekdoten. Das Absurde vergreift sich am Surrealen. Siebenmal hintereinander der nichtssagende Satz: Es ist nicht dort, es ist da! Alle sind vom Schnupfen infiziert. Chatzipetrou, als ordentliche Servicekraft des Gemeinwesens für Brandlöschung jeder Art zuständig, sieht sich unversehens einem ganzen anderen Brandherd gegenüber. Mit dem von ihr dadaistisch verwirrend vorgetragenen Familienstammbaum-Gedicht Der Schnupfen verabschiedet sich Chatzipetrou von dieser mediokeren Gesellschaft. Übrigens, wie geht es der kahlen Sängerin? Sie trägt immer noch die gleiche Frisur!, rettet Mr. Smith das beredte Schweigen mit absurder Noblesse.

Eigentlich ist damit alles gesagt, was Ionesco mitder kahlen Sängerin erzählt. Am Ende steht alles wieder auf Anfang. Sein Wortleichen-Kontext ist immer noch ganz von dieser Welt. Die Kahle Sängerin, Ionescos analytische Reflexion über die Sinnfreiheit und Orientierungslosigkeit der Welt, von Simons in grotesk-komische und irreale Szenen übersetzt (Dramaturgie: Leonie Adam), wird vom Premieren-Publikum in Bochum enthusiastisch gefeiert. Versteckt sich hinter dem lauten Beifall vielleicht auch eine eigene, stille Betroffenheit?

28.04.24

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Harlekinade mit verkehrten Vorzeichen

Gibt es sie tatsächlich noch oder nicht mehr? Oder ist die viel beschworene Natürlichkeit nur eine Phantasmagorie? Jean-Jacques Rousseaus aufklärerischer Weckruf – Zurück zur Natur! -, so zwar nicht wörtlich in Émile, ou De l’éducation formuliert, bringt allerdings auf den Punkt, was ihmwichtig ist. Dass der vermeintliche zivilisatorische Fortschritt einhergeht mit zunehmender sozialer Ungleichheit und mit einem Rückschritt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt verbunden ist.

Ich, Antonin Artaud – Der wilde Harlekin als Teil 3 des Rausch-Spektakel am Theater an der Ruhr in Mülheim assoziiert nach Louis-François Delisle de la Drevetière (nach einem vergessenen Erfolgsstück der Frühaufklärung, uraufgeführt 1721 in der Pariser Comédie Italienne) und einer Übersetzung und Bearbeitung durch Leopold von Verschuer das Bild Rousseaus einer von Kultur und Zivilisation unverdorbenen Natur und den Folgen. Antonin Artaud (1896 – 1948) entwickelt im Kontext von André Bretons Manifest des Surrealismus ein Theater der Grausamkeit. Text, Sprache und Bewegung treten suggestiv in den Hintergrund. Das Spektakel als Kern der Inszenierung rückt in den Vordergrund.

In diesen Tagen eröffnet die 60.Biennale in Venedig unter dem Motto Foreigners Everywhere, übersetzt als Ausländer überall. Adriano Pedrosa, Brasilianer und erster Südamerikaner als künstlerischer Leiter der Biennale formuliert als Motto der Hauptausstellung Stranieri ovunque. Fremde überall. Nur eine Verschiebung von Nuancen der Übersetzung?

Roberto Ciulli sagt es in der sich an die Vorstellung anschließenden Gesprächsrunde grundsätzlicher: Menschsein heißt immer Fremdsein. Am Schluss seiner Inszenierung plädiert er für die magischen Momente, die dem Theater eigen seien. Leopold von Verschuer erzählt dazu eine eigene Fremdheitsgeschichte. Auf einer französischen Bühne versteckt sich der französischen Text ihm, dem Schauspieler für Momente in seiner deutschen Version. Das Fremde und das Eigene überscheiden sich.

Artaud, den Bernhard Glose mit geschmeidiger wie konsequenter Stringenz wechselweise auch als Harlekin spielt, öffnet mit ersten fragmentierten Textpassagen den Reflexionsraum für die nächsten 90 Minuten. Er will in die schöne, von Kolonisatoren beschworene Welt der Zivilisation nicht einsteigen: Ich will aussteigen. Die Zivilisation erweist sich als hinterlistiges, letztendlich falsches Glücksversprechen.

Die Harlekinade dreht in der Dramaturgie von Helmut Schäfer ihre Perpektive. Der wilde Harlekin beschwört das Menetekel des Fremden. Nicht er, der eher sanftmütige, die Zweckhaftigkeit der zivilisatorischen staunend naiv hinterfragende Naturbursche ist ein Wilder. Die barock pompöse Eroberungsgesellschaft schlingert in grotesk verzerrter Selbstsicherheit in eine Defensive, die weder lieben, noch verstehen kann. Außer wenn es um Handel und Bürgschaft geht. Aber auch das ist nur eine scheinbar Halt gebende Krücke.

Die Angebote des Händlers (Klaus Herzog mit dummdreisten Attitüden großmächtiger Verzweiflung) suggeriert dem sogenannten Wilden ein Haben als Glück per se. Es gibt Arme und Reiche. Die haben Geld und die anderen müssen arbeiten, um Geld zu bekommen. Und was machen die Reichen? – Die schlafen.

Haben, haben, memoriert der Umworbene unverhohlen sarkastisch – und verkehrt das Händlerspiel. Ähnlich dreht er zusammen mit seiner aus dem Stand gewonnenen Liebe, dem Dienstmädchen Violetta (Maria Schulte-Werning mit überzeugender Empathie für ihre Chance, ihrer Herrschaft eine Nase zu drehen) eine mobile Liebesnest-Bühne. Während leise Je t’aime … moi non plus, das charismatisch erotisch flimmernde Duett von Serge Gainsbourg mit Jane Birkin von 1969 zu hören ist, quetschen sich Pantalone und Flaminia als Selbstgefangene mit sehnsüchtiger Begierde in ihre Sänfte.

Starr steif staunt die Gesellschaft, wie Violetta und Harlekin alles in Bewegung bringen. Albert Bork zittert in Selbstdressur, wie sich Dagmar Gepperts Lippen erschrocken an die Scheibe kleben. Eingeleitet von einem balzenden, höfischen Tanz der rivalisierenden, später sich gegenseitig als Verlierer entlarvenden Joshua Zilinske, als Mario rauscht elegant stolpernd über die Bühne, wie der Lelio von Fabio Menéndez, triumphalisch gestikulierend, auch nur zweiter Gewinner ist.

Während Harlekin über die menschliche Vernunft räsoniert – und fast beiläufig Immanuel Kant zu seinem 300.Geburtstag am 22.April (Datum dieser Veröffentlichung!) mit der Frage: Wer ist der Mensch? auf den Plan ruft – und feststellt, dass das Leben dort stattfindet, wo auch Scheiße zu riechen ist. Die Artaud begleitende Mademoiselle (Maria Neumann überwiegend in einer schauspielerisch undankbaren Rolle der Beobachtenden): Wir stecken tief in der Sch…..öpfung.

Die finale Arabeske, dass es auch einmal eine Zeit gab, wo Menschen wie ein Baum waren. Fest in der Erde verwurzelt, empor wachsend in der gewissen Versicherung von reichlich Licht und Wasser, öffnet Ciullis Inszenierung magische, philosophisch konnotierte, gleichwohl lebenspralle Assoziationsräume, die weit über die Aufführung hinaus weisen.

Sie in ihrer magischen Kraft für das eigene Leben zu entdecken, bleibt dem Theaterbesucher selbst überlassen. Wage zu wissen! (Sapere aude!) Kants Begriff von Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit spurt mit Ich, Antonin Artaud – Der wilde Harlekin ohne philosophisch moralinsauen Aplomb eine bildmächtige, inspirierende Schneise ins Heute.

Anekdotischer Nachtrag:

Im Foyer wuselt vor Vorstellungsbeginn ein etwa 10jähriger Schüler ungestüm durch die Reihen des überwiegend älteren Publikums. Einige Männer haben ihren ergrauten, schütteren Haaren noch ein Zöpfchen abgetrotzt. Andere tragen es schulterlang. Eine Dame gleichen Alters antichambriert sogar mit vier sorgfältig geflochtenen Zöpfen. Sind die in die Jahre gekommenen Bezopften und Langhaarigen die Zivilisierten der Vergangenheit? In welche zivilisatorische Zukunft läuft der mit wildem Eifer hin und her laufende Junge?

22.04.2024

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Das Geistige – Eine Kraft, die bewegt

Mit einem flüchtigen Blick die Ausstellungsankündigung Hilma af Klint und Wassily Kandinsky in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfallen gelesen, mag mancher ein Schreibfehler vermuten. Klingt lautsprachlich nach Gustav Klimt. Der ist präsent  im Bewusstsein des Kunstinteressierten. Aber Hilma af Klint im gleichen Atemzug mit Kandinsky?

Dass Klimt und af Klint im gleichen Jahr (1862) geboren sind, ist allerdings der einzige gemeinsame Nenner im Kanon der Kunstgeschichte. Gleichwohl ist der Bezug zu Kandinsky, einem der wichtigsten Protagonisten der Moderne am Anfang des 20.Jahrhunderts, den die Kuratoren Julia Voss und Daniel Birnbaum in Zusammenarbeit mit der Direktorin Susanne Gaensheimer aufzeigen, auch für den kenntnisreichen Ausstellungsbesucher in jedem Fall eine herausfordernde Entdeckungsreise.

Hilma af Klint (1862-1944) und Wassily Kandinsky (1866-1944) teilen zwar, biografisch betrachtet, eine Zeitgenossenschaft, die in der öffentlichen Wahrnehmung als Künstler bis heute nicht unterschiedlicher sein könnte. Hier der omnipräsente, biografisch schillernd durchleuchtete Kandinsky; dort die fast vergessene, introvertiert anmutende af Klint. Lange in Vergessenheit geraten, richtet ihr das heimatliche Moderna Museet Stockholm 2013 eine erste umfassende Retrospektive Hilma af Klint: Pioneer of Abstraction aus. Nach Ausstellungen im Museum of Modern Art, New York (2021) und im Kunstmuseum Den Haag und der Tate Modern, London 2023 jetzt bis 11.August 2024 in Düsseldorf.

Dass af Klint in der kunsthistorischen Wertschätzung mit dem mehr oder weniger offen artikulierten Vorbehalt, ihr Werk erinnere zum Verwechseln an Kandinsky, zu Unrecht als ein weniger authentisches, eigenständiges Werk eingestuft worden ist, widerlegt die Düsseldorfer Ausstellung. Wobei anzumerken ist, dass die hergestellten Bezüge von af Klint zur Abstraktion á la Kandinsky mit seinen Improvisationen und Kompositionen eine konjunktivische Signatur haben. Sie hat ihre Werke jedenfalls so nicht bezeichnet.

Die Konzeption der Ausstellung fokussiert, dass beide im Alter von 45 Jahren, in der gemeinhin als Mitte des Lebens bezeichneten Lebensphase ihre künstlerische Arbeit radikal neu orientieren. Sie befinden sich an Wegkreuzungen der Moderne. Alles soll und wird anders werden: Anders malen, mit anderen Assoziationen. Gedanken und Gefühle malerisch frei fließen lassen. Keine Abbilder einer wie auch immer sich darstellenden Wirklichkeit schaffen, sondern mit einer geistigen, die Welt verändernden Kraft revolutionär an den Festen der darstellenden Kunst rütteln.

Kandinsky publiziert Über das Geistige in der Kunst. Der Umschlag zeigt ein apokalyptisches Motiv, das Improvisation 12 (Der Reiter) von 1910 zitiert. Af Klint ist inspiriert von Séancen. Ihre bisherige naturalistische und Portrait-Malerei fällt in eins mit der Welt der Séancen. Die Serie Die Gemälde für den Tempel sowie die Kleinformate Urchaos, Nr. 13-16 (1906-07) zeigen das. Während Kandinsky mit der Gruppe Der Blaue Reiter seinen Visionen immer weiter entgegen reitet, organisiert af Klint vornehmlich mit Anna Cassel eine Gruppe von Künstlerinnen: Die Fünf. Obwohl diese Zusammenarbeit nur kurz währt, malt sich af Klint in den folgenden Monaten in einen Rausch großformatiger Bilder. Mit Die Zehn Größten, die in Düsseldorf die Wände eines Ausstellungssaals bis unter die Decke füllen, überträgt sie das, was ihr in den Séancen offenbart wird, mutig und kraftvoll inspiriert auf geklebtes Architekturpapier.

Ihre Überzeugung – Ich bin ein Atom im Universum – schließt sich mit Visionen von Hildegard von Bingen, alle Werke seien von göttlichen Eingaben inspiriert, an, wie sich Friedrich Nietzsches Verständnis als bloße Inkarnation eines übermächtigen Mediums jenseits seines Verdikts – Gott ist tot!af Klints Intentionen nahe kommt: Wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf.

Eine Arabeske, wie auch eine Volte zu Kandinskys Kosmos schlägt der Katalogbeitrag mit Wilhelmine Assmann, einer handwerklich ebenfalls von Séance-Erfahrungen inspirierten Freundin. Wenn auch ein unbedingtes, kuratorisches Wollen einer Brückenkonstruktion, die mit einem Motiv der sogenannten Traumalerin Assmann einer an Kandinsky adressierten Postkarte begründet wird, nicht abzustreiten ist, konzentriert die Ausstellung auf Perspektiven vergleichbarer und ähnlicher Strategien die beide Künstler. Im Dialog von Verstand und Gefühl wird beispielsweise die Figur des Hl. Georg zum Reflexionspunkt von Geist und Materie. Bei af Klint, die sich von der christlich mythologischen Reiter-Legende bis in ihre Träume verfolgt sieht, wird er in der Serie als Die Taube, Nr. 78 (1915) dargestellt. In St. Georg (1910) assoziiert Kandinsky mit dem zentralen Weiß etwas, das wie Schweigen klingt, welches plötzlich verstanden wird.

Mit Hilma af Klint und Wassily Kandinsky schließt die Ausstellung nach ihrem Selbstverständnis eine Lücke in der Geschichte der Abstraktion und öffnet, wie es im Untertitel heißt, Perspektiven als Träume von der Zukunft. Eine andere, als die damals üblichen. Bewegt von einer geistigen Kraft, die im Dialog mit dem materiellen Gegenstand Untiefen des allein Verstehbaren auslotet. Nichts weniger als das, ist in der Ausstellung zu entdecken. Ein Erweckungserlebnis der besonderen Art, das mit einer AR-Brille weitere Wahrnehmungsräume eröffnet.

Im Widerspruch zu diesen großzügigen Horizonterweiterungen steht der kleinformatige, taschenbuchartige Katalog, der die Wirkmächtigkeit der Arbeiten leider nicht wiedergibt. Ein solcher, kleinkariert gestalteter Katalog ist dieser Ausstellung nicht angemessen.

19.04.24

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Sinfonische Kontraste

Wo die Liebe hinfällt, hinterlässt sie Spuren. Wie sie glückselige Traumseligkeit versprechen können, können sie auch in bittere Enttäuschung abstürzen. Eine Erfahrung, die vielen Menschen nicht unbekannt ist. Künstlerischen Werken sind häufig entsprechend biografische Notationen eingeschrieben. Komponisten übersetzen sie mit Tempi und Modi in Musik.

Das April-Sternzeichenkonzert in der Tonhalle Düsseldorf titelt nüchtern mit Brahms 1. Klavierkonzert. Das Konzertprogramm mit dem Klavierkonzert Nr. 1 D-Moll von Johannes Brahms und der Symphonie Nr. 1 B-Moll von William Walton öffnet die ganze Bandbreite von leidenschaftlicher Sehnsucht und enttäuschten Liebesbezeugungen. Platonisch gemäßigt eher leise bei Brahms; laut tremolierend und verstörend bei Walton.

Mit dem Adagio des Klavierkonzerts klangmalt Brahms seine Verehrung für Clara Schumann:….male ich an einem sanften Portrait von Dir (Brahms in einem Brief an sie vom Dezember 1856). Waltonstrong feeling for lyricism – entzündet im ersten Satz Allegro assai emotionale, vulkanisch leidenschaftlich gestimmte Ausbrüche in Verehrung für die Baronesse Imma von Doernberg im Hochgefühl, Musen des Feuers zu verewigen. Von ihr abgewiesen, komponiert Walton, fortsetzend mit Presto con malizia, in rasender, hassgesättigter und boshafter Eifersucht.  

Demgegenüber macht es sich Brahms schwer, seine Glückseligkeit und seine Verzweiflung über den Gang der Dinge auszudrücken. Als drücke ihn das Lob Robert Schumanns drei Jahre zuvor – Brahms sei einer, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre – in eine kreative Hemmung, müht er sich über Jahre die Partitur zu vollenden.

Alpesh Chauhan navigiert die Düsseldorfer Symphoniker durch die Sinfonien, die kaum gegensätzlicher in der Kompositionsstruktur sein könnten, mit betonten Zäsuren und Generalpausen. Mit dem kongenialen Pianisten Stehen Hough durchschreiten sie die leidvoll lange Entstehungsgeschichte des Konzerts für Klavier wie mit einer narrativen Folie.

Beginnend mit der überdimensionalen, monumentalen 90-Takte-Introduktion, von ostinat wirbelnden Pauken vorwärts getrieben, verlangsamt Chauhan das Tempo in feinsinnig spürbarer Abstimmung mit Hough. Dieser setzt mit Motivpartikeln des Hauptthemas vehement mit einer temperamentvollen Solo-Exposition ein. Seine Finger verharren nach den Einsätzen sekundenlang über den Tasten. Sie scheinen an ihnen zu kleben und damit konzertlang eine dauerhafte Verbindung mit Brahms Klavierkonzert einzugehen, bevor er sich zurücklehnt.

Hough spinnt sich konzentriert wie in einem Klavier-Kosmos-Kokon ein. Bis weit in das folgende Adagio hinein findet kein für den Zuhörer wahrnehmbarer Kontakt mit dem Orchester statt. Das Maestoso ist von Brahms so virtuos organisiert, dass kein Platz für eine Solo-Kadenz bleibt. Mit dem Adagio entschweben Dirigent und Pianist in einen religiös kadenzierenden Meditationsklangraum. Emphatische Steigerungen beruhigen sich in episodenhafter Elegie.

Im sich leidenschaftlich steigernden Finale mit dem zweimaligen Ruf von Trompete und Horn und einer quasi als Fantasia auskomponierten Kadenz brilliert Hough mit feinfühlig ausdrucksstarker Spielkultur. Er nobilitiert das Konzert in Form einer romantisch gestimmten Clara-Robert-Schumann-Arabeske.

Waltons filmmusikalisch intendierte Sinfonie interpretiert Chauhan mit tänzerischer Vehemenz. Er schafft ihr mit den ambitioniert spielfreudigen Düsseldorfern Symphonikern einen eigenen Klangraum, der keinen Zweifel an der kompositorischen Stringenz und Ernsthaftigkeit aufkommen lässt. Die Sinfonien kontrastieren einerseits Klassik-Tradition nach Beethoven und Bruckner mit Brahms, wie andererseits Doppelbegabungen von Komponisten auch für Filmmusik, wie Erich Wolfgang Korngold, einem Zeitgenossen Waltons.

Dass die dynamische Furor des Allgero, brioso ed ardentemente an eine solche aus der sinfonischen Dichtung Pini di Roma mit dem finalen I pini della Via Appia von Ottorino Respighi erinnert, assoziiert Tendenzen einer Moderne um 1930. Waltons Sinfonie antizipiert nach dem Baronesse-Liebesdesaster vorab das danach folgende paradiesisch schillernde Leben mit Susanna Gil auf Ischia und dem Park La Mortella.

Das Sternzeichenkonzert entdeckt mit spielerischer Lust Walton, der vielen als eine Stilikone des Romantic Looner gilt, vor allem als einen authentischen Grenzgänger zwischen Tradition und Moderne, der in Klassikkonzerten eher außen vor bleibt.  

17.04.24

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