© Maurice Korbel
Wer hat noch nie das Gefühl gehabt, dass irgendetwas anders ist als sonst? Kopfschmerzen, Unruhe, die sich nicht so ohne weiteres zurückdrängen lässt? Ein Gefühl, als würde man von bösen Geistern beherrscht.
Für die Autorin Anna Smolar, die sich in ihrer Theaterarbeit häufig mit sozialen Themen auseinandersetzt, sind diese Hungry Ghosts virulent.Traumatische Zustände, die epigenetische Forschungen als über Generationen vererbte, vernarbte Wunden identifiziert haben wollen. Gemeinsam mit einem Ensemble der Kammerspiele München entwickelt sie in diesem Kontext eine Theateraufführung. Sie analysieren szenisch dieses Phänomen als Eine Farce über komplizierte Biografien im Format einer Text-Musik-Tanz-Collage.
Dieses komplexe Thema dekliniert die Inszenierung mit einem Lächeln selbstironisch. Lachen als einfache, gleichwohl nicht immer leicht zu praktizierende Handlungsmöglichkeit ist für Smolar zentral. Durch Lachen, gewissermaßen durch ein Über-Lachen, könnten abrupt erlebte seelische Blockaden, die gewohnte Verlässlichkeiten aushebeln, aufgelöst werden. Smolars Inszenierungsprinzip will Komplizierte Biografien auf der Bühne nahbar machen.
Hungry Ghosts besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil erzählt das Ensemble von den Mühen der Ebene seiner Profession. Eine Schauspielgruppe ist in den Endproben vor einer Premiere. Komödiantisch witzig, bedeutungsvoll aufgeladen, probt Regisseur Peter (André Benndorff charakterisiert ihn als eine sexuell entlarvte Luftnummer seiner Regiekunst) ehelichen Seitensprung als Farce. Doris und Charlotte sind Schauspielerinnen des Ensembles. Sind aber auch Mutter und Tochter. Als Tochter Charlotte plötzlich nicht mehr in ihrer Rolle tickt, ist die Premiere gefährdet.
Mutter Doris (Johanna Eiworth spielt Doris als von der Zeit Getriebene, die sich vor sich selbst versteckt, bevor ihr die Augen geöffnet werden) unterstützt aktiv die sich im Folgenden aufbauende Stimmung im Ensemble gegen sie (Katharina Maria Schubert gelingt eine komplizierte Biografie in ihren nicht wirklich aufzulösenden Facetten einer grenzziehenden Wirklichkeit).
Nach dem Motto, die war doch schon immer komisch und wollte etwas Besonderes sein, geht die Inszenierung in eine psycho-analytische, epigenetisch reflektierte Phase über. Sie wird eingestimmt mit einem Monolog von Mira Marcinów, der aus der Perspektive von Großmutter und Mutter vom serbischen Heldenmythos zwischen Liebe und Verbrechen des Sohnes erzählt. Jelena Kuljić, als Maskenbildnerin Jackie im Stück um verständigenden Ausgleich bemüht, spricht ihn abwechselnd mit Alexander (Nicola Fritzen, der haus- und hofmeisterliche Hasardeur des Ensembles mit sportivem Esprit) in Serbokroatisch. Der Sound der Sprechenden transformiert mit der deutsch übertitelten Übersetzung Farce, Zeitgeschichte sowie Wirklichkeit in rasanten theatralen Kontextualisierungen.
Agnes, die Autorin der Farce, von Lucy Wilke, körperbehindert im Rollstuhl mit kaum zu übertreffender Authentizität nicht nur gespielt, mehr noch gelebt, liest dem Ensemble, allen voran Regisseur Peter, die Leviten. Hört‘ auf mit diesem Psycho-Scheiß! Wenn ihr mich im Rollstuhl seht, denkt ihr wahrscheinlich, wie es wäre, wenn ich da sitzen müsste. Aber das ist falsch. Ich kenne mich nur so. Beinahe nonchalant, ja beiläufig spricht Wilke, von dem, was Sache, was Tatsache ist. Du, Peter, geh‘ nach Hause, habe ordentlichen Sex oder masturbiere, lies das Textbuch – und komme dann wieder! Die Spielenden werden unausweichlich auf ihre eigene Biografie und ihre verborgenen Schattenseiten zurückgeführt.
Mit Doris‘ Regression von der als Kind ertrunkenen Schwester zur Blockade ihrer Tochter und Schauspielerin Charlotte öffnet Smolar eine Tür, unbewusst Verborgenes, Komplizierte Biografie zu belichten. Etwas zu erfühlen, das in seiner Tatsächlichkeit unmittelbar ist, entzieht sich dem mittelbar Eigentlichen. Hamlets Resignation – Der Rest ist Schweigen. –, als auch Doris rhetorisch hilflose Trostversuche – Du bist nicht schuld! – lässt Smolar mit Hungry Ghosts nicht gelten.
Sie will mehr Kontur und Struktur ins epigenetische Halbdunkel bringen. Der finale tumultuarische Furor (Musik: Jan Duszyński) mit schweißtreibenden, therapeutisch zentrierten Körperübungen, dirigiert und choreografiert von Agnes, verhallt. Smolars gelingt eine Auflösung der Farce nur bedingt. Der stürmische Beifall des Publikums erzählt offenbar von einer anderen Meinung.
24.01.23