Herbert Blomstedt (Jahrgang 1927) ist ein Phänomen in jeglicher Hinsicht. Nach einem Sturz im letzten Jahr in seiner Bewegung eingeschränkt, erleben die Konzertbesucher im Konzerthaus Dortmund einen hellwachen, geistig frischen Dirigenten mit einer klaren Mission, nämlich mit respektabler Partiturgenauigkeit und analytischer Präzision Musik zu verlebendigen.
Begleitet von der 1.Konzertmeisterin des Chamber Orchestra of Europe betritt er die Bühne, setzt sich auf einen Klavierhocker, versinkt für einen kurzen Moment mit gestrafftem Oberkörper in zen-buddhistischer Konzentration. Von da an beginnt ein beinahe ungläubiges Staunen im Publikum, wie Blomstedt sehr unterschiedlichen Kompositionen feinsinnig nachspürt. Zu Beginn die selten zu hörende Sinfonie Nr. 4 Es-Dur »Naïve« seines Landsmannes Franz Berwald (1796 – 1868), dann mit der Sinfonie Nr. 3 a-moll op. 56 »Schottische« von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) eines der am häufigsten aufgeführten Konzerte. Komponisten einer Generation, die nach der Wiener Klassik für ein romantisches Klangbild unterschiedlicher Prägung stehen. Nordisch geprägt, einerseits von der heimatlichen Landschaft (Berwald), andererseits von faszinierenden Reiseeindrücken (Mendelssohn Bartholdy).
Seit einigen Jahren erleben vor allem die Sinfonien von Berwald eine Renaissance im hiesigen Konzertleben. Blomstedt ist dafür ein wesentlicher Protagonist. Seiner Interpretation der 4.Sinfonie ist anzumerken, dass es ihm eine Herzensangelegenheit ist, sie zu spielen. Insbesondere die Holzbläser Oboe, Flöte und Fagott gestalten das romantisch sprudelnde Atmosphärische nachhaltig.
Wie intensiv er sich mit dem Werk auseinandergesetzt hat, kann man daran erkennen, dass die auf dem Pult geöffnete Berwald-Partitur nicht gebraucht wird. Die von ihr ausgehende Inspiration wirkt, als genügte ihm der in ihr enthaltene Atem Bergwalds. Das ist insofern bemerkenswert, da der Dirigent anschließend die oft gespielte Sinfonie von Mendelssohn Bartholdy mit der Blatt für Blatt umgewendete Partitur dirigiert. Ernsthaftigkeit in Respekt für die Werktreue in unterschiedlicher Form.
Beeindruckt von der schottischen Landschaft und ihrer tragischen Maria-Stuart-Geschichte, ist die Schottische nach der Pause dennoch keine Programmmusik. Die Sinfonie, ist traditionell im 4-sätzigen Muster komponiert und ohne Pausen konsequent durchzuspielen. Herbert Blomstedt vermeidet im Sinne Mendelssohn Bartholdys hier übliche Attacca-Vorschriften und dirigiert mit Esprit, dass man den Eindruck hat, ihm ginge dabei das Herz voller Freude auf.
Die vier Sätze der Symphonie Nr. 3 a-Moll op. 56 interpretiert Blomstedt als noble Einladung. Mit einem dem Orchester zugewandten Lächeln, aufmerksam konzentriert, klangmalen die Musiker feinstrukturierte Arabesken. Sie formen ein Ganzes, ein engverschlungenes Ganzes, wie Robert Schumann einst bemerkte.
Tiefernst, melancholisch bis elegisch gestimmt, entwickelt der 1. Satz aus einem klarinettengefärbten Pianissimo fahle Unruhemomente. Mit volkstümlich lebhafter Anmutung kontrastiert das Scherzo den düster verhangenen Beginn. Dem von Ernst und Nachdenklichkeit gefärbten Adagio gewinnt Blomstedt mit dem Chamber Orchestra of Europe eine dichte lyrische Klangfarbigkeit ab, die sich in den scharf punktierten Bläsermotiven zu orchestralen Tutti-Ausbrüchen steigert. Das Orchester folgt den filigranen Gesten des altersweisen Maestro bis ins kleinste Detail. Mitunter reicht ein kleiner Fingerzeig, beruhigt schwingend Arme, ein betontes Pianissimo anzeigende, vor den Mund gehaltene Hände, um das Orchester in Mendelssohn Bartholdys Klangkosmos zu begleiten.
Episch erhaben, durchweht schaurige Sturmmusik Andante con moto den ersten von Holz und Blech geheimnisvoll gewebten Satz. Blomstedt sitzt geerdet auf seinem Klavierhocker, zieht mit sparsamen Körperbewegungen des Oberkörpers den Klang gleichsam in den Raum. Wiegend mit der Hüfte Vivace non troppo, sind windfrische Meeresbrisen zu ahnen, die sich im Adagio mit dem vom Horn angestimmtem Motiv elegisch und wachträumend im Finale Allegro vivacissimo – Allegro maestoso assai zur finalen Eleganz aufbauen.
Den hymnisch sich auftürmenden Finalsatz verstärkt Blomstedt mit einem notierten Allegro maestoso assai zu einem von Schlachtengetümmel durchpulsten Allegro guerriero. Ursprünglich von Mendelssohn Bartholdy so bezeichnet, später von ihm getilgt, folgt Blomstedt der ersten Intention des Komponisten und bekennt sich zu seinem konstruktiv-kontrapunktischen Kompositionsprinzip.
Standing Ovations im Konzerthaus Dortmund für einen Großen, der wie aus der Zeit gefallen, inniglich verzaubert.
29.05.2023