Das Theaterprojekt Anthropolis – Ungeheuer. Stadt. Theben von Roland Schimmelpfennig in der Uraufführung des DeutschenSchauspielHauses Hamburg bewegt, erregt und verwirrt den Kopf und das Herz mit einer energetisch aufgeladenen Intensität kollektiver und solistischer Schauspielkunst (Anthropolis: Wer sind wir? vom 25.11.23).
Aufgeblättert in der Reihenfolge – Prolog/Dionysos – Laios – Ödipus – Jokaste – Antigone -, spannt die Inszenierung einen Bogen über mehr als 2.400 Jahren Zivilisationsgeschichte. Für die 49. Mülheimer Theatertage, die der seit Jahren wichtigsten Präsentation der besten neuen deutschsprachigen Stücke, haben die Juroren aus der Anthropolis-Penthalogie den Solitär Laios ausgewählt.
Laios geriert sich zu einem atemberaubenden Solo-Abend mit Lina Beckmann – neben dem tragischen König Laios ist sie auch Kreon, der Bruder von Jokaste als auch der antike Chor. Ihre Anverwandlung der einzelnen Charaktere entwickelt sich zu einem solistischen Parforceritt mit grotesken Untertönen. Im Publikumsgespräch nach der Aufführung betont Schimmelpfennig, dass dieser Laios-Text als Solo-Performance seiner Überzeugung von einem unzerstörbaren Theater am meisten gerecht wird.
Die Entstehungsgeschichte von Anthropolis ist vielleicht die direkteste, teilweise prophetisch unfassbarste Reflexion auf den pandemiebedingten Lockdown. Der offene Lebensraum Stadt wird im Frühjahr 2020 geschlossen. Diese bisher in der Gegenwart nicht gekannte (gelebte), übermächtige Wirklichkeit, erinnert sich die Dramaturgin Sybille Meier, rückt in Gesprächen Schimmelpfennigs mit der Regisseurin Karin Beier und dem Bühnenbildner Johannes Schütz die Geschichte der griechischen Polis in den Mittelpunkt.
Schimmelpfennig überträgt den Mythos von der Gründung der Stadt zum Ausgangspunkt der europäischen Zivilisation in assoziativer Anlehnung an Erzählungen und Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides. Die Dramaturgie der griechischen Tragödie mit ihrer Divergenz von Gott und Mensch, die sich auf Natur/Tier und Mensch verschiebt, entwickelt sich in Schimmelpfennigs Text zu einer aktualisierten Geschichte der Menschheit heute. In bisher nie gekannten Dimensionen hat sie in Verantwortung für einen Lebensraum für alle, für Tiere, Pflanzen und letztlich für sich selbst Schuld auf sich geladen.
Die griechische Mythologie mit ihrer blindwütigen, lernblinden Abfolge von Aufbau, Zerstörung, Wiederaufbau, neuerlicher Zerstörung, bis in die Gegenwart (Überfall Russlands auf die Ukraine sowie die militärisch politische, von der Hamas instrumentalisierte Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästinensern) geht immer weiter so, erzählt Schimmelpfennig mit einem reduzierten Sprachrhythmus. Objektiv-Reihungen, in denen sich das Subjekt als ein Ich-Wir-Palimpsest entziffert.
Laios, gequält von dem Orakel (hör auf, hör auf, hör auf, wann hört das auf, es hört nicht auf), das ihm einen inzestuös mordenden Sohn, Ödipus ankündigt, halluziniert eine Katze am Himmel. Die Katze ist eine Frau mit einem grün schillernden Kleid, wie es Europa trug, als der Stier sie im Prolog entführte. Dieser Laios schreit mit Beckmann verzweifelt und vergebens nach Erlösung. Das nimmt einfach kein Ende….von nun an singt das Ding am Himmel, die Katze, in den Köpfen aller Menschen in der Stadt, Tag für Tag und Jahr für Jahr.
Beckmann transformiert mit ihrem Spiel Schimmelpfennigs Sprachtext zu einem konvulsivisch mäandrierenden Hörerlebnis. Im Publikumsgespräch gefragt, wie sie sich in und durch diese Text-Collage orientiert, denkt sie kurz nach und lacht: Auf Zack sein – und einfach machen…
In 90 Minuten meistert sie berserkerhaft und poetisch zugleich steile Berghänge, taucht in tiefe Flüsse ein, verweilt in rauschhaft stillen Ebenen. Changierend zwischen Erzählerin, Chor der Thebaner, Laios, dem von sich selbst überraschten König, Jokaste, die wie nebenbei seine Frau und Königin wird, spannt Beckmann einen mythischen Bilderbogen, der in Kreisbewegungen immer wieder zum Anfang zurückkehrt: Eine schmale, staubige Straße, weit entfernt, die Stadt….auf der Straße ein Mann, ein Mann auf einem Wagen….Am Himmel keine einzige Wolke. Ein Vogel. Das retardierende Moment, dass es kein Vogel, sondern eine Katze, eine Frau ist, assoziiert ein Menetekel ganz von dieser Welt.
Schimmelpfennigs am Ende in der zum Prolog identischen Textzeile räsoniert in Beiers Inszenierung Laios Angst wie im Angessicht eines Damoklesschwertes: Bist du das? Beckmann geht in ihre Ausgangsposition zur hinteren Bühnenwand. Lautstarker Applaus holt sie in den Vordergrund zurück. Solo einer Schauspielerin in ihrer eigenen Liga!
10.05.24