Das Geistige – Eine Kraft, die bewegt

Mit einem flüchtigen Blick die Ausstellungsankündigung Hilma af Klint und Wassily Kandinsky in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfallen gelesen, mag mancher ein Schreibfehler vermuten. Klingt lautsprachlich nach Gustav Klimt. Der ist präsent  im Bewusstsein des Kunstinteressierten. Aber Hilma af Klint im gleichen Atemzug mit Kandinsky?

Dass Klimt und af Klint im gleichen Jahr (1862) geboren sind, ist allerdings der einzige gemeinsame Nenner im Kanon der Kunstgeschichte. Gleichwohl ist der Bezug zu Kandinsky, einem der wichtigsten Protagonisten der Moderne am Anfang des 20.Jahrhunderts, den die Kuratoren Julia Voss und Daniel Birnbaum in Zusammenarbeit mit der Direktorin Susanne Gaensheimer aufzeigen, auch für den kenntnisreichen Ausstellungsbesucher in jedem Fall eine herausfordernde Entdeckungsreise.

Hilma af Klint (1862-1944) und Wassily Kandinsky (1866-1944) teilen zwar, biografisch betrachtet, eine Zeitgenossenschaft, die in der öffentlichen Wahrnehmung als Künstler bis heute nicht unterschiedlicher sein könnte. Hier der omnipräsente, biografisch schillernd durchleuchtete Kandinsky; dort die fast vergessene, introvertiert anmutende af Klint. Lange in Vergessenheit geraten, richtet ihr das heimatliche Moderna Museet Stockholm 2013 eine erste umfassende Retrospektive Hilma af Klint: Pioneer of Abstraction aus. Nach Ausstellungen im Museum of Modern Art, New York (2021) und im Kunstmuseum Den Haag und der Tate Modern, London 2023 jetzt bis 11.August 2024 in Düsseldorf.

Dass af Klint in der kunsthistorischen Wertschätzung mit dem mehr oder weniger offen artikulierten Vorbehalt, ihr Werk erinnere zum Verwechseln an Kandinsky, zu Unrecht als ein weniger authentisches, eigenständiges Werk eingestuft worden ist, widerlegt die Düsseldorfer Ausstellung. Wobei anzumerken ist, dass die hergestellten Bezüge von af Klint zur Abstraktion á la Kandinsky mit seinen Improvisationen und Kompositionen eine konjunktivische Signatur haben. Sie hat ihre Werke jedenfalls so nicht bezeichnet.

Die Konzeption der Ausstellung fokussiert, dass beide im Alter von 45 Jahren, in der gemeinhin als Mitte des Lebens bezeichneten Lebensphase ihre künstlerische Arbeit radikal neu orientieren. Sie befinden sich an Wegkreuzungen der Moderne. Alles soll und wird anders werden: Anders malen, mit anderen Assoziationen. Gedanken und Gefühle malerisch frei fließen lassen. Keine Abbilder einer wie auch immer sich darstellenden Wirklichkeit schaffen, sondern mit einer geistigen, die Welt verändernden Kraft revolutionär an den Festen der darstellenden Kunst rütteln.

Kandinsky publiziert Über das Geistige in der Kunst. Der Umschlag zeigt ein apokalyptisches Motiv, das Improvisation 12 (Der Reiter) von 1910 zitiert. Af Klint ist inspiriert von Séancen. Ihre bisherige naturalistische und Portrait-Malerei fällt in eins mit der Welt der Séancen. Die Serie Die Gemälde für den Tempel sowie die Kleinformate Urchaos, Nr. 13-16 (1906-07) zeigen das. Während Kandinsky mit der Gruppe Der Blaue Reiter seinen Visionen immer weiter entgegen reitet, organisiert af Klint vornehmlich mit Anna Cassel eine Gruppe von Künstlerinnen: Die Fünf. Obwohl diese Zusammenarbeit nur kurz währt, malt sich af Klint in den folgenden Monaten in einen Rausch großformatiger Bilder. Mit Die Zehn Größten, die in Düsseldorf die Wände eines Ausstellungssaals bis unter die Decke füllen, überträgt sie das, was ihr in den Séancen offenbart wird, mutig und kraftvoll inspiriert auf geklebtes Architekturpapier.

Ihre Überzeugung – Ich bin ein Atom im Universum – schließt sich mit Visionen von Hildegard von Bingen, alle Werke seien von göttlichen Eingaben inspiriert, an, wie sich Friedrich Nietzsches Verständnis als bloße Inkarnation eines übermächtigen Mediums jenseits seines Verdikts – Gott ist tot!af Klints Intentionen nahe kommt: Wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf.

Eine Arabeske, wie auch eine Volte zu Kandinskys Kosmos schlägt der Katalogbeitrag mit Wilhelmine Assmann, einer handwerklich ebenfalls von Séance-Erfahrungen inspirierten Freundin. Wenn auch ein unbedingtes, kuratorisches Wollen einer Brückenkonstruktion, die mit einem Motiv der sogenannten Traumalerin Assmann einer an Kandinsky adressierten Postkarte begründet wird, nicht abzustreiten ist, konzentriert die Ausstellung auf Perspektiven vergleichbarer und ähnlicher Strategien die beide Künstler. Im Dialog von Verstand und Gefühl wird beispielsweise die Figur des Hl. Georg zum Reflexionspunkt von Geist und Materie. Bei af Klint, die sich von der christlich mythologischen Reiter-Legende bis in ihre Träume verfolgt sieht, wird er in der Serie als Die Taube, Nr. 78 (1915) dargestellt. In St. Georg (1910) assoziiert Kandinsky mit dem zentralen Weiß etwas, das wie Schweigen klingt, welches plötzlich verstanden wird.

Mit Hilma af Klint und Wassily Kandinsky schließt die Ausstellung nach ihrem Selbstverständnis eine Lücke in der Geschichte der Abstraktion und öffnet, wie es im Untertitel heißt, Perspektiven als Träume von der Zukunft. Eine andere, als die damals üblichen. Bewegt von einer geistigen Kraft, die im Dialog mit dem materiellen Gegenstand Untiefen des allein Verstehbaren auslotet. Nichts weniger als das, ist in der Ausstellung zu entdecken. Ein Erweckungserlebnis der besonderen Art, das mit einer AR-Brille weitere Wahrnehmungsräume eröffnet.

Im Widerspruch zu diesen großzügigen Horizonterweiterungen steht der kleinformatige, taschenbuchartige Katalog, der die Wirkmächtigkeit der Arbeiten leider nicht wiedergibt. Ein solcher, kleinkariert gestalteter Katalog ist dieser Ausstellung nicht angemessen.

19.04.24

Über Peter E. Rytz Review

www.rytz.de
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