Royal, sozial, nicht egal

Die LUDWIGGALERIE Schloss Oberhausen entdeckt seit Jahren mit ihrer Direktorin Christine Vogt fotografische Perspektiven, die immer wieder überraschen. Es braucht offenbar für ein Ausstellungshaus, das wie dieses über keine eigene Sammlung verfügt, ein Gespür für aktuelle Tendenzen oder für vergessene in der Kunstgeschichte der Fotografie.

Der Aufmerksamkeitsfokus ist in der Regel ambitioniert geschärft. UK Women – Britische Fotografie zwischen Sozialkritik und Identität titelt die aktuelle Ausstellung (noch bis 15.09.2024). Vogt trägt dazu passend an diesem Tag eine lila Bluse. Augenzwinkernd, ungeschminkt, ironisch aufmunternd, wie man sie kennt: Fotografinnen sind immer noch unterpräsent in der Geschichte der Fotografie.

Der Untertitel 28 fotografische Positionen aus dem Vereinigten Königreich kokettiert mit der royalen Bezeichnung. Den Brexit, die selbstgewählte europäische Außenseiterrolle, parallelisieren die Kuratoren Ralph Goertz (IKS PHOTO) und Kerrin Postert mit britischen Fotografinnen in einer ähnlichen Wahrnehmung. Mit UK Women entdecken sie sozial und gesellschaftspolitisch engagierte Fotografinnen, die so bisher noch nie gesehen und ausgestellt worden sind. Sozialkritik, Migration, Genderidentität, Community und Diversität sind Themen, die bis heute im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses stehen.

Im Gegensatz zur programmatisch engagierten Vorgabe von Sozialkritik und Identität nimmt sich Goertz beim Presserundgang gegenüber seiner Kollegin Postert viel Raum für eine auf Dauer ärgerliche Selbstinszenierung. Seine rhetorischen Wiederholungen – Ich als Kurator mag nicht… – werden durch sein kokettierendes Eingeständnis – Ich weiß. Ich rede eigentlich zu viel. – nicht wirklich relativiert.

Die Ausstellung kontrastiert malerische Landschaften mit der Realität gesellschaftlicher und sozialer Umbrüche, die von hoher Arbeitslosigkeit und politischer Instabilität über die letzten 50 Jahre seit den Jahren der Thatcher-Regierung (1979 – 1990) bis heute bestimmt sind. Fotografinnen aus drei Generationen erzählen in seriellen Arbeiten (220 Werke in 29 Serien) diese Geschichten. Die Authentizität der Fotografien wird wesentlich von den Geschichten hinter diesen sowie von den biografischen Konnotationen der Fotografinnen selbst bestimmt.

Der Ausstellungsbesuch entwickelt eine suggestive Kraft. Sie entsteht mitunter überraschend bei einer genaueren Bildbetrachtung. Innerhalb der Serie Youth unemployment/Elswick Kids (1981) von Tish Murta posieren auf steinernen Sockeln eines bürgerlichen Hauseingangs zwei Jugendliche. Auf einem ist Tish gesprayt. Umstände und Urheber bleiben unbeantwortet. Es entsteht eine, wenn auch mehr oder weniger zufällige Selbstbezüglichkeit, die sich der Betrachter selbst weitererzählen kann.

Ähnlich ambitioniert dokumentiert Margret Mitchell in den beginnenden 1990er Jahren gesellschaftlich soziale und kulturelle Ungleichzeitigkeiten in Stirling, einer Kleinstadt in Schottland, die durch ihre mittelalterliche Altstadt viele Touristen anzieht. Die Tristesse im Stadtteil Raploch bleibt jenen in der Regel verborgen. Denn die einen sind im Dunkeln. Und die anderen sind im Licht, wie es bei Bertolt Brecht in der Dreigroschenoper heißt.

Demgegenüber setzt sich Arpita Shah mit ihren eigenen kulturellen Wurzeln auseinander. In der Serie Mymphaeceae (2012) porträtiert sie Frauen asiatischer oder afrikanischer Herkunft. Mymphaeceae verweist auf eine Wasserpflanze, die im Boden verwurzelt ist und über der Wasseroberfläche blüht. Leben in Vielfalt und Einschränkung, die individuell verarbeitet werden (müssen). Alys Tomlinson porträtiert im Sommer 2020 während der Covid-Hochphase Teenager im Alter von 15 bis 19 Jahren, deren Schulabschlussveranstaltungen abgesagt wurden: Lost Summer.

In Lollypop, Lollypop (2011) versteckt Sarah Maple im scheinbar allein Spielerischen ihre Reflexion in der Auseinandersetzung unterschiedlicher Kulturen mit feministisch aktivistischem Akzent. Provozierend wie ironisch in Szene gesetzt, vereint UK Women ältere und jüngere Positionen mit der Perspektive Sozialkritik und Identität und lädt zu einer empfehlenswerten Erkundung ein.

12.06.24

Über Peter E. Rytz Review

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