Die Kraft unbedingter Courage

Das Lehmbruck Museum Duisburg feiert als Ikone der Architektur der 1960er Jahre sein 60jähriges Jubiläum mit stolz geschwellter Brust. Der Ausstellungtitel Courage. Lehmbruck und die Avantgarde (bis 6. Oktober 2024) erinnert an die mutige Entschlossenheit der Duisburger Stadtgesellschaft, diese einzigartige Architektur Haus aus Glas zu realisieren. In einer Zeit, in der eine Stahl-Glas-Konstruktion, wie sie Manfred Lehmbruck, der 1913 in Paris geborene Sohn (gestorben 1992 in Stuttgart) Wilhelm Lehmbrucks entworfen hat, von manchen durchaus kritisch gesehen wurde.

Rückblickend war dies ein Husarenstreich, den die Direktorin Söke Dinkla zusammen mit ihrem eigenen 10jährigen Amtsjubiläum selbstbewusst mit Courage unterstreicht. Wie es damals Courage, also Mut brauchte, diesen Museumsbau im Kontext der Duisburger Stadtentwicklung durchzusetzen, so reflektiert die Ausstellung die Kraft der Kunst, immer von Neuem auf die Zukunft mit ihrem kreativen Gestaltungspotential zu setzen. Die Ausstellung setzt dabei auf Lehmbrucks Dialog mit seinen künstlerisch arbeitenden Zeitgenossen.

In diesen Gegenüberstellungen zeigen sich überraschende, gleichwohl inspirierende Referenzen in fünf Sektionen. Die Erschütterungen des Ersten Weltkrieges mitsamt seinem verstörenden menschlichen Leiden sowie die sozialen Auswirkungen im Blick auf den einzelnen Menschen, fokussiert sich in den bildhauerischen Facetten Lehmbrucks. In der unmittelbaren Nachbarschaft von Werken der Bildhauer Auguste Rodin oder Medardo Rosso (für Dinkla ein in der Kunstgeschichte, respektive der Ausstellungshistorie zu Unrecht weniger beachteter Bildhauer) sowie in der Malerei von Egon Schiele wird das nachhaltig sichtbar.

Der Mensch in der Moderne, losgelöst von über Generationen mehr oder weniger verlässlich tradierten Lebenserfahrungen und Wahrnehmungsgewohnheiten, ist gefordert, sich völlig neu zu orientieren. Mitunter eine Überforderung, die bis ins Heute nachzuverfolgen ist. Künstlerisch reflektiert, zerfallen der Raum und die Zeit, von einer sich andauernd dynamisierenden Geschwindigkeit bestimmt, in den Werken von Alexander Archipenko oder dem italienischen Futuristen Umberto Boccioni.

Tektonische Bruchzonierungen in diesen Arbeiten parallelisieren Lehmbrucks Figuren wie Mädchen sich umwenden/Schreitende (1913/14) formal und ausdrücklich. Oder es öffnet sich im unmittelbaren Nebeneinander der Pietà (Mutter mit Sohn) von Käthe Kollwitz gegenüber dem Sitzenden Jüngling (1916/17) zeitunabhängig ein nachdenklich machender Aktualitätshorizont. Feste Formen lösen sich auf, Perspektiven schieben sich ineinander, überlagern sich teilweise. Ungewohnte Perspektiven zeichnen künstlerisch neu auszumachende Schönheiten.

Courage, die Bezeichnung einer Haltung wider aller destruktiver Umstände, schlägt einen assoziativen Bogen von Zeiten des Ersten Weltkriegs über Bertolt Brechts Drama Mutter Courage und Ihre Kinder unmittelbar vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als ahnungsvolles Schrecken-Szenario bis hin zu den kriegerischen Auseinandersetzungen der Ukraine mit dem Aggressor Russland und denen der Palästinenser mit dem Staat Israel.

Der Ausstellungsbesuch geriert sich unversehens zu einer Courage-Mahnung, die weit über künstlerische Artikulationen ins unmittelbare Lebensgefühl drängt. Warum die Konzeption der Ausstellung mit einem Lehmbruck zugeschriebenen Zürich affinen Dada-Horizont couragiert überdehnt wird, bleibt allerdings ein Geheimnis der Ausstellungsmacher.

19.06.24

Über Peter E. Rytz Review

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