London Pictures 2011 – 292 Plakat-Collagen von Gilbert & George in MKM Museum Küppersmühle Duisburg

© Peter E. Rytz  2013

© Peter E. Rytz 2013

Goldene Hochzeit klingt verstaubt, wie von gestern. Gilbert & George leben seit fast 50 Jahre eine goldene Künstlergemeinschaft. Nach wie vor mit einer vitalen Kreativität, die, das Alter nach Jahren gezählt, nur wie ein fehlerhaftes Ergebnis anmutet, wenn man durch ihre Ausstellung London Pictures 2011 in MKM Museum Küppersmühle Duisburg geht (noch bis 30.Juni 2013). So wirklich ihr Kunst, so unwirklich, wie aus der Zeit gefallen, ihr zwillingshaftes Auftreten in feinem maßgeschneidertem Tuch. So unschuldig ihr Gesichtsausdruck während der Pressekonferenz zur Ausstellungseröffnung, so massiv ihre unser aller Schuldbekenntnis thematisierenden Plakatcollagen von bis zu 3 x 3 Metern. Mit einen sezierenden Blick auf den alltäglichen Wahnsinn, der von den englischen Boulevardblättern jeden Tag aufs Neue in einer brisanten Mischung aus Trivialität und Brutalität zum voyeuristischen Eyechatcher der Weltbedeutsamkeit gemacht wird, haben Gilbert & George jetzt ernst gemacht. Sie schauen gnadenlos auf ihren Lebensort London heute – und sind offenbar sosehr irritiert von Death Horror, Drogs, Sex, Rape, Hate und all den zahllos namenlosen Grausamkeiten im Miteinander, häufig eben mehr ein Gegeneinander von Menschen, dass sie sich ihrer unmittelbaren Betroffenheit Entlastung schaffen mussten. Entlastung aber nicht für diejenigen, denen sie ihre therapeutischen Übungen als Ergebnis London Pictures 2011 vor die Nase halten. Nicht nur, dass Charles Dickens (1847) im Katalog zitiert wird – ….furchtsamen Blicks die ungeheure, vor ihnen liegende Stadt Stadt betrachteten, als ahnten sie, dass ihr Elend dort nur ein Tropfen im Meer oder ein Sandkorn am Gestade sei…. So eilten sie dem in der Ferne brüllenden Ungeheuer zu und waren verloren. – und damit etwas von dem aufscheint, was heute längst überwunden schien. Es ist, als würde beim Wandern entlang der Plakatcollagen durch die Ausstellungsräume, das vielbeschworene Blut in den Adern gefrieren. Dadurch, dass Gilbert & George sich selbst in den Collagen als Person erkennbar machen – frontal fragend oder erschreckt mit angstvoll aufgerissenen Augen; auf Augenhöhe face to face; versteckt wie in einem Suchbild oder Zerrspiegel – und jede Arbeit unten rechts mit dem Signet der Queen in jungen Jahren und ihrem Autogramm signiert ist, werden die Zeitebenen Vergangenheit und Gegenwart gleichsam aufgehoben. 2011 ist wie die Dickens-Zeit Vergangenheit und gleichzeitig sind sie auch Gegenwart. Selbst der Ort London ist austauschbar. Gilbert & George machen uns auf etwas aufmerksam, was wir nicht wahrhaben wollen. Es gibt sie, die zivilisierte Welt, wenn überhaupt nur als frommen Wunsch. Dass es nicht beim Wünschen bleibt, würde bedeuten, Begriffe wie Moral, Anstand, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Respekt zu ent-frommen, sie für ein sozial ausbalanciertes Gemeinwesen vom Himmel auf die Erde zu holen. Da das offensichtlich täglich vielfach scheitert, ist es, wie bei jeder an Gesundung orientierten Therapie notwendig, eine Anamnese zu machen. London Pictures 2011 ist eine solche. Allerdings, 292 Analysebögen, respektive London Pictures haben in ihren tiefenpsychologisch emotionalen Zumutungen auch einen kulturellen und gesellschaftlichen Mehrwert von Kunst. Über den Umweg Kunst, das Alltägliche aus dem vertrauten Umfeld – wo es dort häufig kaum mehr aufmerksam wahrgenommen wird – in einen (alltags) fremden Ausstellungsraum zu transformieren, wie es Marcel Duchamp 1917 in seinem mit Fountain bezeichneten Urinal als Ready-made erstmals programmatisch tat, werden Perspektiven ermöglicht, das alltäglich Vertraute mit anderen Augen und Sinnen anders zu erleben. Golden Verstaubtes, unzeitgemäß Verlorenes, konservativ Abgetanes erweisen sich, vom Licht künstlerischer Transformationen beschienen, nicht selten als Selbsttäuschung einer selbstverliebten Moderne und Mode. In der Ausstellung begegnen den Besuchern Gilbert & George in einem Video-Skill am Beginn ihrer goldenen Zeitrechnung. Zeitlos in der Zeit, mit kalkulierter Unschuldsmiene den Unschuldsschleier schon fest im Visier, um ihn im nächsten Augenblick mit einer Gilbert & George-Performance wegzureißen und ihre Weltzustandsanalysen freizugeben.

Photo streaming Gilbert & George

15.04.2013

Über Peter E. Rytz Review

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