Wie Charlotte Salomon als Doppelspitze im Ruhrgebiet funktioniert

© Peter E. Rytz 2015

© Peter E. Rytz 2015

Mit der Präsentation von Charlotte Salomons Gouachen auf der dOKUMENTA (13) 2012 in Kassel ist die Wahrnehmung ihrer künstlerischen Arbeit erstmalig nachhaltig ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Eine Arbeit, die radikal und außerordentlich für sich steht. Außerordentlich in der Kunstgeschichte in den 1930ger Jahren in der Verknüpfung von Malerei und Text: Leben? oder Theater? Außerordentlich die Geschichte ihres Lebens in suggestiven Bildern zu erzählen, das mit ihrer Ermordung, 26jährig und hochschwanger 1943 im KZ Auschwitz endete.

1961 erstmals ausgestellt, als ein exemplarisches Werk der modernen Kunst in seiner radikalen Originalität von der Kunstkritik zwar be- und vermerkt, versank es in den Jahrzehnten danach in einen Dornröschenschlaf. Möglich, dass die Gouachen mit ihrem lasierenden und pastosen Farbauftrag keine richtigen Gemälde sind, respektive als solche gesehen wurden und sie sich mit ihren comic-haften Texten lange Zeit einer belastungsfähigen Kunstkritik entzogen.

Jetzt ist im Ruhrgebiet eine Charlotte-Salomon-Offensive zu bestaunen. Gewissermaßen mit einer Doppelspitze, wie sie im Fußball praktiziert wird, um sich erfolgreich in Szene zu setzen, haben sich das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und das Kunstmuseum Bochum auf eine strategische Doppelspitze von darstellender und bildender Kunst verständigt.

Nach der von der Kritik vielfach gelobten Premiere der Inszenierung der Ballett-Oper Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin (Blaue Obsessionen im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen –  Uraufführung des Balletts „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ veröffentlicht auf Peter E. Rytz Review, vom 15.02.2015), die assoziativ auf dem  Konvolut von 769 Gouachen der Malerin basiert, ist jetzt eine Auswahl von etwa 250 Bildern als Leihgabe des Jüdischen Historischen Museums, Amsterdam im Kunstmuseum Bochum zu sehen (bis 25.Mai 2015).

Die kleinformatigen Gouachen sind entlang den Ausstellungswänden dicht gehängt. Wie in einem aufgeschlagenen Buch liest und sieht man sich durch die Lebensgeschichte von Charlotte Salomon. Narration und Kommunikation verbinden sich mit den Bildern zu einer reflexiven Tiefe, die deutlich darauf verweist, dass Salomon die Avantgarde der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts gut kannte. Ob von Munch, van Gogh, Kirchner oder von anderen Ikonen des Expressionismus Spuren in ihren Bildern sichtbar werden, ist insofern von nachrangiger Bedeutung, als ihr Bild-Text-Format in dieser Zeit unvergleichlich und eigenständig war. Ihre Bilder sind gemalte Obsessionen, Hoffnungen und Ängste, die eine faszinierende Suggestion auch heute immer noch ausüben. Obwohl mitten in ihnen suizidale Ängste und böse Vorahnungen unübersehbar sind, strahlen sie gleichzeitig Heiterkeit und Komik aus.

Kunsthistorisch ist die Frage nach Salomons künstlerischer Orientierung zweifellos per se interessant, weil ihre künstlerische Ausdrucksform weitgehend singulär ist. Noch interessanter scheint die Frage, welche Künstler haben bei ihr hingeschaut. Wie hat sie Sujets ins Bild gesetzt, die Leben erzählen, das fragil und ständig bedroht ist? Wie malt man das Das nackte Leben?

In der in Münster gerade beendeten Ausstellung Das nackte Leben. Bacon, Freud, Hockney und andere. Malerei in London 1950 – 80 (Das nackte Leben aus Sicht der London School, zu sehen im neu eröffneten LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster veröffentlicht auf Peter E. Rytz Review, vom 15.02.2015) konnte man, wenn man wollte, kleine Spuren einer Salomon-Rezeption entdecken.

Die purpurne Farbigkeit in Francis Bacons Study for a Portrait (Pope) von 1957 oder die Fensterperspektive in Edward Hoppers Morning Sun von 1952 bestimmen in farblicher und perspektivischer Verschränkungen viele Bilder von Charlotte Salomon. Trotz oder gerade wegen des spekulativen Charakters, spekulativ vor allem weil ihr Werk in den 1950ger Jahren kaum eine Öffentlichkeit hatte, liegen darin Reiz und Reizbarkeit ihres malerischen Gestus.

Das das Oeuvre von Salomon noch nicht hinreichend bearbeitet oder gar in seiner kunstgeschichtlichen Bewertung abgeschlossen ist, bietet es sich dem Ausstellungsbesucher im Kunstmuseum frei und juvenil  von festgefügten Überzeugungen. Eine Chance, sich auf ein weitgehend unabhängiges Selbst-Bild einzulassen. Sehend und lesend ein Mehr zuzulassen, als das, was eine elaborierte Kunstkritik glaubt zu wissen.

Wer die Doppelspitze nicht nur im Fußball toll findet, sollte sich im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen davon überzeugen, dass sie auch in der Kunst funktioniert.

photo streaming Charlotte Salomon

28.02.2015

Über Peter E. Rytz Review

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