Nach hochmögenden Peymann-Jahren am Berliner Ensemble bricht Oliver Reese mit neuer Mannschaft zu zeitgenössischen Entdeckungsreisen an. Die gesellschaftlichen Herausforderungen fest im Blick will sein Theater politischer werden und alte Gewissheiten sowie gewohnte Verlässlichkeiten zur Disposition und Diskussion stellen.
Mit Antú Romero Nunes hat Reese einen Regisseur verpflichtet, der auf offene Kommunikation mit dem Ensemble bei seinen Inszenierungen setzt. Sein Caligula von Albert Camus zum Neustrat des Hauses legt davon beredt Zeugnis ab. Dass im Programmheft Szenenfotos von Schauspielern und Kostümen zu sehen sind, die in der Aufführung nicht auftauchen, ist offensichtlicher Ausdruck davon, dass das Ensemble bis zur letzten Minute geprobt, manche Ideen verworfen und sich ins spielerische Offene gewagt hat.
Die Schauspieler werden arbeitslos. Die Politiker sind die eigentlichen Clowns der Zeit, grübelte Nunes vor Beginn einer Probe. Eine Anekdote aus der Probenarbeit, die viel von den intensiven Kommunikations- und Reflexionsprozessen erzählt. Es beschreibt ein Suchen nach einem Gestus, der Camus‘nach den millionenfachen Morden im 2. Weltkrieg radikal gewandelter Faszination für das Böse in einer adäquate Spielform nachvollziehbar umsetzt.
Camus‘ nihilistische Überzeugung bleibt letztlich trotz alledem davon unberührt. Das dionysische Element von Friedrich Nietzsches Credo Gott ist tot, entlässt in Camus angefügten Epilog der revidierten Fassung von 1947 niemand aus dem Dilemma, am Unglück des Menschen schuldig zu sein. Ich bin nicht tot. Ich bin noch immer da, verabschiedet sich Caligula mit mephistophelischem Understatement von der Bühne.
Noch bevor sich Caligula in blutroten Machtorgien sudelt, wirken die rot gefärbten Spitzen des raspelkurzen Blondhaars einer Zuschauerin im Parkett bei verlöschenden Saallicht wie Ampelsignal zwischen Bühne und Zuschauerraum. Clowns, von Victoria Behr grell bunt kostümiert, tollen dann zu Beginn auch vorerst mit sprachreduzierten Ah- und Oh-Artikulationen aktionistisch vor dem Vorhang. Es mutet wie ein absichtsvolles, gleichsam aussichtloses Türöffnen in Caliguals Dark room an: Wer sagt denn, dass es hier um Liebe geht?
Nunes filetiert diese Frage mit rhetorischer Stringenz wie mit einem Seziermesser. Es schneidet unbarmherzig bis zu den Wurzeln. Liedhaft atmen sie mit Marlene Dietrichs Songzeile Wenn ich mir was wünschen könnte bis zum Ave Maria auf der Flöte einen süßlichen schaurigen Odem aus. Parallel protzt das Soundsystem des Theaters mit martialisch einschüchterndem Donnergedröhn. Nichts weniger als den Mond vom Himmel zu holen, das Unmögliche möglich zu machen, verlangt Caligula.
Was angesichts seines entgrenzten, jede Moral und alle Menschlichkeit negierenden Brutalismus eindeutig erscheinen mag, zeigt vielmehr, dass, auch wenn Caligula tot sein wird, das Böse in jedem Menschen jederzeit abrufbar bleibt. Es braucht oft nur ein kleiner Moment, wo allfällige Machtphanatsien sich ausbreiten können, um das Böse aus der Büchse der Pandora auch für denjenigen, der sich immun glaubte, zu streuen.
Nunes inszeniert Caligula in einer Mischung aus grotesk grausamer Walpurgisnacht und Geist vernebeltem Erlösungstag in einer von Matthias Koch gebauten Bühne mit klaustrophobischer Evidenz. Ähnlich den Menschen in Isaac Bashevis Singers Roman Satan von Goraj, die vergeblich auf die Wiederkunft des Messias hoffen und vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, bleiben Caligulas mehr oder weniger auf pragmatische Ergebenheit und sicherheitsbedürftige Anpassung fixierte Untergebenen Scipio, Cherea, Helicon und Caesonia Gefangener ihrer selbst. Jeder versucht sein totenstilles, totschweigendes Arrangement mit Caligula.
Während Annika Meier als patrizisches Mitläufervolk symbolische Tode stirbt, um danach wieder springlebendig auf dem Vulkan zu tanzen, soll Helicon, der sich als ehemaliger Sklave Caligula verpflichtet fühlt, für ihn den Mond vom Himmel holen. Aljoscha Stadelmanns Helicon stolpert absichtsvoll mit ironischer Großartigkeit durch die Szene. Soll das Kunst sein?, fragt er augenzwinkernd Caligula zugewandt sich anbiedernd.
Oliver Kraushaars Caesonia gibt als Geliebte Caligulas, der Nachfolgerin der toten, inzestuösen Schwesternliebe Drusilla – Drifa Hansen als gekreuzigter, hinreißend singender Erlöser – der Figur eine ihr eigentümliche Indifferenz, wie sie auch Scipio eigen ist. Patrick Güldenberg zeigt mit frappierender Wandlungsfähigkeit, warum Scipio bei allem Widerstandswillen bei einem Aber verharrt.
Cherea ist derjenige, der Caligula nicht nur tötet, sondern Camus‘ neue Position in der revidierten Fassung verdeutlicht. Auch der Mord an einem Tyrannen bleibt ein Mord. Leben als unbedingt und unhinterfragbar, trotz offensichtlicher Schuld hat Camus dem Cherea eingeschrieben. Man schaut Felix Rech bei diesem absurden Kammerspiel mit zwiespältigen Gefühlen zu. Rechs Spiel überstrahlt mit fulminanter Bühnenpräsenz Chereas eigentlich unmögliche Navigation in moralischen Untiefen.
Constanze Becker spürt in ihrem Caligula die Differenz von maßloser, unstillbar wütender Machtpraxis und einem selbstquälerischen Gefühl, letztlich doch nicht richtig frei werden zu können, nach. Ihr gelingt es, Caligulas kaltblütiger Machtdemonstration mit jedem Blutstropfen durchsichtiger erscheinen zu lassen. Das scheinbar Unumstößliche, das Eherne, das Unverwundbare eines Machtmenschen, der sich in einer gottfreien, somit gottlosen Welt als reinkarnieter Über-Gott sonnenbadet, wird im fluiden Tropfen Bluts wie das Licht gebrochen und gestreut. Beckers Caligula verliert mit jeder Mordtat fast unmerklich ihre vermeintliche zentrierte, stahlharte (Strahl)Kraft. Sie fächert mit ihrer sprachlichen, gestischen und körperlichen Exzellenz Caligulas Charakter wie im Farbenspektrum des Lichts auf.
Auf dem Weg nach Hause bleibt der Kopf nicht nur benommen vom jubelnden Beifall. Irgendwie lässt einem der beängstigende Gedanke nicht los, das Caligula schattengleich und unerkannt weiter mit uns durch die Welt streift.
08.11.2017