Provinzialität versus ex-zentrische Moderne

 

Ernst Ludwig Kirchner, Mädchen unter Japanschirm (1909); Yorozu Tetsugorō, Nude Beauty (1912) @ Peter E. Rytz 2019

Auch der gut informierte Connaisseur der Kunst der Moderne, der seit vielen Jahren regelmäßig die Sammlungen und Sonderausstellungen im europäischen Kulturraum besucht, mag beim Betreten der Ausstellung Mikrogeschichten einer ex-zentrischen Moderne in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf überrascht sein und sich möglicherweise verwirrt die Augen reiben.

Die Ausstellung eröffnet mit Mädchen unter Japanschirm, einem Klassiker der Avantgarde aus dem Jahr 1909 von Ernst Ludwig Kirchner. Unmittelbar gegenüber Nude Beauty (1912) von Yorozu Tetsugorō, ausgeliehen vom The National Musuem of Modern Art Tokyo, wird die Irritation handfest. Nur die Arbeit betrachtend, ohne vorher Name, Ort- und Zeitbezug gelesen zu haben, würde man nicht unbedingt auf die Arbeit eines japanischen Zeitgenossen von Kirchner tippen.

Die Ausstellung stellt diese sogenannte ex-zentrische Moderne von 1910 bis 1960 in den Mittelpunkt. Sie entwickelt sich neben der exemplarisch bezeichneten Station Tokyo 1920 über Sâo Paulo 1922, Mexico City 1923, Shimla 1934, Beirut 1948 bis nach Zaria 1960 mit rund 150 Werken, angereichert mit einer Vielzahl von Dokumenten, zu einer globalen, kunstgeschichtlichen Entdeckungsreise. Sie erzählt, wie der Ausstellungstitel etwas kleinmütig formuliert, Mikrogeschichten einer ex-zentrischen Moderne. Gewohnt, die Kunstgeschichte aus einer vornehmlich westlich-europäischen und amerikanischen Perspektive zu betrachten, fällt dem Ausstellungsbesucher (s)eine merkwürdig irritierende Provinzialität vor die Füße.

Globalität, vielfach auf alle gesellschaftlichen und kulturellen Ebenen gebetsmühlenartig beschworen, weist vor allem auf eine ex-zentrische Wahrnehmungsbalance der Ausstellungsbesucher selbst in Düsseldorf hin. Das konzeptionell absichtsvoll bezeichnete Ex-Zentrische entkleidet sich vor den Arbeiten aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen bei genauerem Hinschauen insbesondere einer vordergründigen Exotik.

Dass neben Marc Chagall, Wassili Kandinsky oder Kasimir Malewitsch auch ein Maler wie Niko Pirosmani mit seiner naiv anmutenden Malerei einen wichtigen Teil des russischen Futurismus repräsentiert, ist vielen wahrscheinlich ebenso unbekannt, wie der Stellenwert von Lasar Segall als Maler der brasilianischen Moderne.

Seine enigmatisches Gemälde Die Ewigen Wanderer (Os Eternos Caminhantes) von 1919, gemalt mit religiöser Inspiration, die der Würde des Menschen zutiefst verpflichtet ist, hält es, neben Die Nacht (1918) von Max Beckmann gehängt, dem avantgardistischen Anspruch vollends stand. Sein Emigrantenschiff (Navio de emigrantes) von 1939/41 hat angesichts der anhaltenden Flüchtlingsbewegungen über das Mittelmeer in den letzten Jahren eine geradezu beängstigende, prophetische Aktualität.

Lasar Segall , Navio de emigrantes (1939/41) @ Peter E. Rytz 2019

1940 schreibt Stefan Zweig aus Petrópolis (Brasielien), der letzten Station seines Exils an Segall: Könnten Sie doch…das ganze Elend der Flüchtenden von heute vor den Konsulaten, auf den Schiffen, in den Bahnen, auf den Wegen zur Darstellung bringen. Nicht wissend, dass Segall schon an der Arbeit war. Der in einer Vitrine ausgestellte Briefwechsel zwischen Segall und Stefan Zweig aus dem Jahr 1940 dokumentiert eine schicksalhaft erschütternde, assoziative Unmittelbarkeit von Literatur und bildender Kunst.

Mit David Alfaro Siqueiros und Frida Kahlo als Vertreter der mexikanischen Avantgarde des anerkannten Kanons der Kunstgeschichte fühlt man sich bestätigt. Amedeo Modiglianis Porträt von Diego Rivera (1914) schlägt zudem eine unmittelbare Brücke zur bekannten euro-zentristischen Versicherung der Avantgarde.

Die indisch-ungarische Malerin Amrita Sher-Gil und die libanesische Künstlerin Saloua Raouda Choucair, Schülerin von Fernand Léger, legen mit ihren Arbeiten Zeugnisse kosmopolitischer Identitäten ab. Ihre von eigen geprägter Ungegenständlichkeit in Verbindung mit arabischer Kalligrafie und islamischer Geometrie  bestimmten Arbeiten stellen damit allein westlich intendierte abstrakte Strukturen und Formen als eingeschränkt euro-zentristische Perspektiven zur Disposition.

Alain Resnais hinterfragt schon Anfang der 1950er Jahre ein weithin immer noch kolonial geprägtes, europäisches Selbstverständnis: Warum befindet sich die Art Nègere im Museé de l’Homme, während sich die griechische oder ägyptische Kunst im Louvre befindet? Die Arbeit Self-Portrait with a Cloud von Tetsugorō in der Ausstellung kann man als eine Antwort darauf lesen.

Yorozu Tetsugorō, Self-Portrait with a Cloud (1912/13) @ Peter E. Rytz 2019

Die Düsseldorfer Mikrogeschichten einer ex-zentrischen Moderne zeigen das Dilemma einer bisher weitestgehend unhinterfragten monokulturellen Konzeption der Moderne als weiß und westlich mit reiner beinahe inflationären Verwendung des Transkulturellen.

Die Ausstellung liest die Kunstgeschichte noch bis zum 10. März 2019 nicht vollkommen neu, aber anders. Indem sie bisherige Positionen korrigiert, erweiterte Perspektiven sensibel fokussiert und justiert, wird das überstrapazierte Schlachtwort von der Globalisierung als lange Geschichte der Kunstgeschichte erfahrbar.

16.02.2019

Über Peter E. Rytz Review

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