Alles nur ein Spiel?

Larissa Machado, Benjamin Hoffmann, Yannik Heckmann, Christopher Bruckman, Sena Shirae, Anne Stein in der Uraufführung „Schließ deine Augen – Rien ne va plus!“, ein Mehrspartenprojekt der Theater und Philharmonie Essen im Rahmen der TUP-Festtage 2019; Inszenierung: Sascha Krohn und Marijke Malitius

Rien ne va plus – nichts geht mehr -, titelt die Uraufführung der Inszenierung von Marijke Malitius und Sascha Krohn im Grillo Theater Essen. Konsequent übersetzt, würde sie ungerechtfertigt überschätzt werden. Es macht nach der Premiere eher den Eindruck c’est encore plus possible – es ginge durchaus noch mehr.

Der vollständige Titel Schliess Deine Augen Rien ne va plus führt die Zuschauer vorerst in die Irre, respektive erschließt sich seinem Inhalt nach erst mit dem zweiten Teil der Aufführung.

Malitius eröffnet den Abend mit Tintagiles Tod, einem alptraumhaften Text von Maurice Maeterlinck – einem Dichter, der um die Wende des 20. Jahrhunderts als Dramatiker, Lyriker, Essayist und Philosoph ein wichtiger Vertreter des Symbolismus ist. Seine Texte reflektieren die Krise des modernen Menschen, von der Theodor Adorno meint: Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften.

Das untergründig Beunruhigende übersetzt Malitius in eine spielerisch tänzerische Choreografie, die mit Kinderstube, einem Liedzyklus für Tenor (Benjamin Hoffmann solide situativ) – und Klavier (Christopher Bruckman präzis akzentuierend) von Modest Mussorgski, musikalisch kommentiert wird. Die unbedingte Relevanz von Spiel und Tanz bleibt eher in vagen Andeutung stecken.

Sena Shiraes Schatten-Tanz als choreografierter Kommentar zu ihrer Schwester Ygraine bleibt ebenso ein konjunktivisches Versprechen. Anne Stein spielt sie im Rotkäppchen-Look in einer märchenhaft derangierten Bühne mit von Angst getriebener Emphase (Kostüme und Bühne: Gesa Gröning). Wechselnd zwischen lautem Kreischen und flüsternder Hoffnung, bleibt ihr schauspielerischer Gestus überschaubar.

Bis hierhin bleibt eine detaillierte Sinnhaftigkeit eher verschattet. Selbst das Ende kommt für die Enthusiasten des Publikums in der Premiere überraschend. Zögerlicher Beifall: Ist jetzt wirklich Schluss?

Mehr Klarheit – wenn auch nur bedingt überzeugend – kommt in die Aufführung im zweiten Teil mit Krohns Inszenierung Ohne Ausnahme! nach Motiven des Bühnenstücks Peter Pan or The Boy Who Wouldn’t Grow Up von James Matthew Barrie. Nach dem Tintagiles-Tod-Vorspiel, in dem Kinder ängstlich das Böse vermuten – genährt von dunklen Kindergeschichten, wo Kinder von niederträchtigen, lieblosen Erwachsenen malträtiert, Märchen von Kinder fressenden Hexen erzählt werden -, hat sich Krohn eine programmatische Spielanordnung ausgedacht: Peter Pan, oder der Junge, der nicht erwachsen werden wollte.

Peter lebt als Anführer der Kinder-Gang The Lost Boys auf Neverland mit dem Siegversprechen, abgeschreckt von elterlichen wenn-dann-Lebensphilosophien,  niemals erwachsen werden zu wollen. Seine Macht manifestiert sich in der Drohgebärde: Schliess Deine Augen und du wirst jedes Abenteuer bestehen. Dieses Gebot, das den bösartigen Widersacher Captain Hook auf seinem im Meer geheimnisvoll dümpelnden Schiff in eine grenzlose Bedrohung stilisiert, improvisiert Yannik Heckmann aktionistisch überreizend. Es erschöpft sich auf Dauer in lärmender Aufgeregtheit.

Als Jo (Christopher Bruckman findet nach seinem pianistischen Part nur bedingt in eine schauspielerisch nachhaltige Form) ausschert und trotz Prügelangebot darauf beharrt, die Augen offen zu halten, verhöhnt ihn Peter: Du bist ja wie ein Erwachsener! Die Strafe folgt auf dem Fuß. Die mit den offenen Augen werden in die blaue Tonne gekloppt.

Der musikalische Kommentar, Boyhood’s End, eine Cantata for Tenor and Piano, den Krohn als finale Konsequenz einfügt, wurde von Michael Tippett bereits 1943 auf einen Text von William Henry Hudson komponiert. Hinter seiner Melancholie – To rise each morning and look on the sky and grassy dew-wet earth, from day to day – lauert allerdings eine spätestens heute überdeutliche gesellschaftliche Brisanz, die ein anderes Erwachsenwerden dringend notwendig erscheinen lässt.

Wie die jüngsten Proteste von Jugendlichen gegen das vorgebliche Nichtstun der älteren Generation für eine zukunftsfähige Umwelt und der Widerstand gegen die EU-Copyright-Reform zeigen, ist die Wirklichkeit draußen, außerhalb des Theaters, schon weiter gekommen: Comme avant, rien n’ira.

29.03.2019

Über Peter E. Rytz Review

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