Poesie der Musik

Michael Volle (Don Giovanni), Serena Sáenz (Zerlina), David Oštrek (Masetto), Slávka Zámečníková (Donna Anna) und der Staatsopernchor
Credits: Matthias Baus

Mozarts Don Giovanni zeichnet seit der Uraufführung 1787 in Prag eine Erfolgsspur in der Operngeschichte mit doppelten Perspektiven. An der Staatsoper Berlin im Rahmen der Festtage 2022 seit 2000 mit vier Inszenierungen. Von Anfang an begleitet von E.T. A. Hoffmanns enthusiastischer Begeisterung, Don Giovanni sei die Oper aller Opern, überschreitet sie musikalisch alle bis dahin tradierten Grenzen der Gattungsgeschichte.

Il dissoluto punito ossia Il (Der bestrafte Wüstling oder Don Giovanni) als Dramma Giocoso in zwei Akten, von Mozart als opera Buffa in 2 atti in der Originalpartitur bezeichnet, verbinden Lorenzo Da Pontes Libretto und Mozarts Komposition Merkmale der ernsten und der komischen Oper. Das Libretto erzählt die veritable Don-Juan-Geschichte als die eines tragisch scheiternden Frauenhelds, dem nach 1.003 verführten Spanierinnen und weiteren Frauen vieler Länder nichts mehr gelingt. Seine Verführungsmagie ist versiegt. Don Giovanni, der Wüstling, ein Getriebener seiner Sucht, geht unweigerlich dem Untergang entgegen.

Mozarts Komposition reflektiert diese Rahmenerzählung. Er bebildert sie nicht musikalisch nacherzählend, sondern folgt so konsequent wie nie zuvor seinem dramatischen Credo, dass die Poesie der Musik  gehorsame Tochter seyn müsse. Dies beschreibt einen Zwiespalt zwischen Text und Musik, in dem die Musik die Oberhoheit einfordert. Mit ihren emotional aufgeladenen Tonartenbehandlungen, ihren damals absolut neuen Bedeutungschiffren,  kommentiert sie die Handlung über ihren rein erzählerischen Kontext hinaus. Sie leuchtet in die Hintergründe mit psychologischer Relevanz. Das Figuren-Tableau wird von gängigen, eindeutigen Charakter-Klischees entschlackt.

Das führt letztlich dazu, dass viele Don-Giovanni-Inszenierungen wie auch die neueste von Vincent Huguet an der Staatsoper Berlin gegenüber konzertanten Aufführungen ein Glaubwürdigkeitsproblem haben. Die von Sören Kierkegaard formulierte Don-Giovanni-Garantie, er sei die Inkarnation der Genialität des Sinnlichen, löst Huguet mit Daniel Barenboim und Staatskapelle Berlin nur teilweise ein.

Huguets konstruiert einen Don Giovanni, einen tollwütigen Verführer, der schöne Frauen wie andere Briefmarken sammelt, als Künstler. Als Vorbild gilt ihm offenbar Peter Lindbergh, einer der einflussreichsten Modefotografen der letzten vier Jahrzehnte. Im Unterschied zu jenem Verführer versammelt Lindbergh schöne Frauen in seinen fotografischen Projekten immer mit höchstem Respekt und gibt ihnen einen empathischen Ausdruck (Lindberghs bisher nicht erzählte Geschichten vom 28.02.2020, hier veröffentlicht).

Die kontrastierende Konzeption, die in Leporellos Registerarie mit sekundenschnell überblendeten Modefotografien aus der Ära der Supermodels aus den 1990er Jahren für einmal aufgeht, verliert sich insbesondere im zweiten Akt in den von Aurélie Maestre selbstreferentiell gebauten Kulissen im nebulösen Tod-Rache-Schwadronieren. Lindberghs ästhetisches Credo – Mich interessierten Frauen, die selbst etwas zu sagen haben und Selbstbestimmung ausstrahlen – scheint Huguet inspiriert zu haben. Im Ergebnis bleibt es ein bruchstückhaftes Konstrukt, das der eigenen konzeptionellen Vorgabe hoffnungslos hinterher läuft.

Überdeutlich zeigt sich in dieser Inszenierung, dass Mozarts technisch außerordentlicher musikalischer Anspruch an Solisten und Orchester eine bedingungslose Originalität besitzt, die szenische Interpretationen an ihre Grenzen führt. Dass setzt wiederum voraus, dass die musikalische Leitung Mozarts klanglich vielfältige Schattierungen auf den Tonpunkt bringt.

Das gelingt Maestro Barenboim mit der klangfarbig differenziert spielenden Staatskapelle Berlin gewohnt zuverlässig. Seidiger Atem der Streicher zusammen mit sonorem Blech und Holz, durchpulst von einer animierenden Pauke sowie einem insbesondere in den Rezitativen ausdrucksstarken Cembalo, klangmalt das Orchester Leid, Leidenschaft, Schmerz, Sinnlichkeit und Tod.

Allerdings eröffnet Barenboim nicht nur in einem merkwürdig behäbig anmutenden Tempo die Ouvertüre in d-Moll. Sein Dirigat vertraut insgesamt auf eine wie vom Orchester selbst getragene Resonanz. Keine Bewegung zu viel. Alles sehr kontrolliert, bewegt dramatisch im Fortissimo. Die musikalisch kohärente Anverwandlung von Mozarts unvergleichlichem Meisterwerk mit seinen musikalischen Kostbarkeiten, die im unmittelbareren Zu- und Hinhören die Poesie der Musik entdecken lässt, breitet sich immer wieder angesichts szenischer Nebenschauplätze zwischen vulgär überreizter Kopulationsartistik und doktorenden Leichen- und Sargträgern eine einschläfernde Langeweile wider Willen aus.

Die Solisten der Aufführung garantieren allerdings ein Stimmenfeuerwerk feinster Güte, das die Inszenierung überstrahlt, sie mit Klangfülle beatmet. Michael Volle ist ein kompletter Sängerdarsteller, dem allerdings mit seiner körperlich gesetzten Alterspräsenz die Glaubwürdigkeit eines jugendlichen Sturmliebhabers fehlt. Sein sonorer Bariton versilbert nicht nur die bekannte Champagner-Arie. Zusammen mit der jungen, quicklebendigen Serena Sáenz als Zerlina interpretiert er das Duett Là ci darem la mano – bekannt im deutschen Volksliedcharakter Reich‘ mir die Hand, mein Leben – mit einschmeichelnder Eloquenz.

Eine spielintelligente wie sängerische Überraschung ist der Bassist David Oštrek als Masetto. Tölpelhaft hasenfüßig für Momente Don Giovannis einschüchternder Blendung aufgesessen, zeigt er zusammen mit Sáenz‘ Zerlina die jungendfrische Melange eines hoffnungsvollen Liebespaares.

Als Leporello neben dem dämonischen Liebesberserker Don Giovanni überzeugt Adam Palka als Gast von der Oper Frankfurt nicht nur mit bassdunkler Geschmeidigkeit. Als Einspringer für den erkrankten Riccardo Fassi beeindruckt er durch sein kurzfristig angeeignetes Rollenverständnis. In der berühmten Registerarie Madamia, il catalogo é quest überzeugt Palka stimmlich wie er gleichermaßen spielerische Akzente mit schlitzohriger Präsenz setzt. Am Ende wird er sogar besonders anerkennend bejubelt.

Elsa Dreisig ist als verschmähte Donna Elvira eine Primadonna des Opernbetriebs, wie man sie mit dieser Präsenz nicht eben häufig findet. Robust und verletzlich zugleich, zeichnet ihr Sopran mit kraftvoller Verve die Charakterstudie einer Frau, die nicht nur für sich, sondern auch für Donna Annas und Zerlinas Ehre kämpft. Ihre Arie Ah, fuggi il traditor, eine Warnung an Zerlina, dem verräterischen Don Giovanni zu entfliehen, ist eine temperamentvolle Enttarnungsgeste.

Der Mord an Donna Annas Vater, Il Commendatore – von Peter Rose solide interpretiert, ohne dem schmalen Libretto Glanzvolles abzugewinnen – ist Ausgangs- und Endpunkt des bösen Bubenstücks.

Slávka Zámečníková entwickelt die widersprüchliche Figur der Donna Anna mit dramaturgischem Fingerspitzengefühl. Zu Beginn eher verhalten defensiv, zeichnet sie, beginnend mit der Arie Or sai chi l’onore, das Bild einer selbstbewussten Frau. Ihr differenziert kolorierender Sopran steigert sich im Verlaufe der Aufführung trennscharf bis in eindrucksvollste Höhen. In einem großen Solistenensemble ist sie an diesem Abend die nachhaltigste Stimme.

Neben diesen exzellenten Solisten gewinnt Bogdan Volkovs Don Ottavio erst spät an Kontur. Mit der Arie Il mio tesoro intanto wird deutlich, über welches Timbre sein lyrischer Tenor verfügt.

Bravi und Standing Ovations für Solisten und Orchester versöhnen nur bedingt mit Huguets langweilender Inszenierung.

12.04.2022

Über Peter E. Rytz Review

www.rytz.de
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