Amplified Imaginations?

© Peter E. Rytz 2022

Überall, nicht nur in den Städten, auch in nahe der Metropolen gelegenen Siedlungen, ist zu beobachten, wie nach dem Abriss eines in die Jahre gekommenen kleinen Hauses ein größeres, neues seinen Platz einnimmt. Wer nach Jahren an solche, ehemals vertraute Orte zurückkommt, kann sich mitunter kaum noch erinnern, wie es einstmals aussah. Geschweige denn, welche Geschichte das alte Haus zu erzählen hatte.

Die Ruhrtriennale erweckt seit nunmehr 20 Jahren in den ehemaligen Industrieanlagen des Ruhrgebiets mit künstlerischen Interventionen Gebäude zu einer neuen Lebendigkeit. Industriegeschichte, gespiegelt im Kontext von Theater, Konzert, Oper und Performance, als große Erzählung des Lebens. Die Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle Bochum steht als schrundig verletztes Gebäude eher im Abseits ihres aufpolierten Nachbarn.

Die Komponistin Sarah Nemtsov erkundet mit einer szenischen Uraufführung ihres Instrumentalzyklus die Turbinenhalle in der Raum-Regie von Heinrich Horwitz. Eine Expedition ins Innere des Gebäudes mit einer, wie sie es nennen, musiktheatralischen Raumperformance, die vor der Halle mit einem Prolog beginnt. Ihr Anspruch: Wir kamen, es zu beleben. Viel mehr noch wollen sie mit choreografiertem Cruising einen Zukunftsprozess in Gang setzen: … und viele Leben stehen ihm bevor, wenn wir weiterziehen.

Allerdings geht es mitnichten im Kern um Bauarchitektur als Werthaltigkeit einer Erinnerungskultur. Vielmehr nehmen Nemtsov und Horwitz den Raumkörper als Metapher für den menschlichen Körper. Zentral ist der Inszenierung, tradierte Identitätszuschreibungen aufzubrechen, sie selbstbewusst widerständig zu konnotieren. Eine, wie sie ausmachen, brutalistische Turbinenhalle-Architektur verortet im Kontext von Transgender Repräsentation, im Verständnis eines Körpergebäudes in Transition.

Wer sich unabhängig von erklärenden Statements auf eine HAUS-Expedition einlässt, wird möglicherweise schon bei der ersten Sequenz im ehemaligen engen Schaltraum irritiert und verstört reagieren. Video animierte Wanddurchbrüche, begleitet von lautstark rumorenden Klangflächen. Amplified imagination (2014) für Flöte, Kopfhörer, Tape, ElecTribe SX und Live Video listet das Faltblatt auf. Es wirkt, als würden Nemtsov und Horwitz mit lauter bis lärmiger Klangmacht jedem, der es bis jetzt noch nicht begriffen hat, unüberhörbar deutlich machen, dass offen zu diskutierende Identitätsfragen zentral für eine lebendige demokratische Gesellschaft sind.

Diese HAUS-Inszenierung, unmissverständlich auch in ihrer konsequenten Großschreibung als ein durchaus wichtiges Thema in einer musiktheatralischen Raumperformance gestaltet, weitet sich insgesamt allerdings zu einem Ärgernis aus. Nicht nur, weil die musikalische Attitüde jenseits von verträglicher (Zimmer)Raumlautstärke bis zu Zimmer I-II (2013) Schichtung für verstärkte Harfe, Kaosspad, Bassflöte und Bassklarinette hörbare Zumutbarkeitsgrenzen weit übersteigt, ist HAUS ein letztlich kontraproduktiv wirkender Schrei nach Aufmerksamkeit. Texte, die intellektuell überanstrengen – Queere Transformationsprozesse erfassen Körper wie Raum, machen schwindelig, pellen die Wände, um ihr Mauerwerk nach außen zu tragen – können nicht wirklich als Rettungsanker funktionieren.

Lautstärke war und ist noch nie ein verlässlicher, nachhaltig wirksamer Verstärker eines gesellschaftlichen Anliegens gewesen. In den Hallräumen der Öffentlichkeit auch jenseits der sozialen Medien verliert sich ein Übermaß von laut und groß in einem allgemeinen Grundrauschen.

Während Ohren und Gemüt noch auf dem Nachhauseweg beiläufig auf ihre Funktionsfähigkeit überprüft werden, fällt einem eine Textsequenz aus Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil ein: Im Kino, auf dem Theater, auf der Tanzbühne….entsteht fortwährend eine neue Oberfläche…Im Einzelnen und Äußeren gestaltet, gleicht dieses Geschehen einem lebhaft kreisenden Körper, wo alles an die Oberfläche drängt…. Ob Nemtsov und Horwitz dieser Text bekannt ist, bleibt unbeantwortet. Noch im Nachhinein ist er ihnen sowie den Besuchern der nächsten Aufführungen zu empfehlen.

02.09.2022
photo streaming HAUS

Über Peter E. Rytz Review

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