Das Alter – Text und Bild

Niemand will ein Buch über das Alter lesen, wenn man jung ist und noch weniger, wenn man alt wird – und im hohen Alter ist es dann zu spät. Und wenn doch, dann jedenfalls etwas Leichteres. So denkt Didier Eribon in der Kulturkiche in Köln-Nippes im Rahmen der lit.Cologne laut darüber nach, warum das Ende der 1950er Jahre von Simone de Beauvoir erschiene Buch Das Alter im Unterschied zu dem ein Jahrzehnt früher veröffentlichten, bis heute häufig zitierten Text Das andere Geschlecht selbst in Fachkreisen wenig bekannt und rezipiert wird.

15 Jahren nach Veröffentlichung von Rückkehr nach Reims, mehr oder weniger einer Abrechnung mit seinem Vater, fragt der Autor sich, welche Anteile er am Tod seiner Mutter hat.  Es ist das Ergebnis seiner Recherche, die er für sein neues Buch Eine Arbeiterin – Leben, Alter und Sterben (Suhrkamp 2024) gemacht hat und sich mit der Frage Warum? auseinandersetzt. Sich selbst mit der Tatsache konfrontierend, dass seine Mutter schon nach sieben Wochen im Pflegeheim gestorben ist und eine Ärztin ihn gewarnt hat, dass viele Menschen unmittelbar nach Einzug ins Pflegeheim vom Verlust des Lebenswillens bedroht sind. Es ist das Syndrome de glissement, eine spezifische Erkrankung hochbetagter Menschen, insbesondere in der Geriatrie, die sich durch eine rasche Dekompensation des Allgemeinzustands ohne erkennbare organische Ursache äußert und sehr oft in weniger als einem Monat zum Tode führt.

Fortan muss er mit seinen Selbstvorwürfen leben, dass er zu spät die Dimension der Gefahr erkannt und entsprechend zu spät reagiert habe. Im Gespräch mit der Moderatorin Carine Debrabandère reflektiert Eribon seine sehr persönliche Erfahrung mit dem Leben, Alter und Sterben seiner Mutter im Kontext soziologischer Analysen. In Die Arbeiterin – die Proletarierin, seine Mutter, die ihm mit ihren rassistischen Überzeugungen (Rassemblement National) früh fremd geworden ist, wird ihm allerdings gleichzeitig gewahr, dass sein Studium an der Université Sorbonne ihrer Arbeitskraft geschuldet ist. Er ist – so Eribon – zu einem sozialen Überläufer geworden. Zu einer Person, die Scham und Mitleid in sich trägt – und die eine neue Sprache jenseits des heimatlichen Champagne-Dialekts lernen muss.

Dabei ist es ihm späterhin wie Schuppen von den Augen gefallen, dass er – ähnlich wie Isabelle Huppert als Tochter in Michael Hanekes Film Liebe (2012) – die Situation seiner Mutter völlig verkannt hat.

Die Erkenntnis seiner Analyse, die das Persönliche mit dem gesellschaftlich Gültigen verschränkt, formuliert er als (s)einen intellektuellen Weckruf, diesen sehr alten Menschen eine Stimme zu geben. Denn es ist offenkundig, dass sie selbst nicht mehr in der Lage sind, sich aus der Nische, in die die Gesellschaft sie abschiebt, zu befreien. In vier Gesprächssequenzen loten Debrabandère und Eribon die soziologischen und ethisch humanistischen Aspekte aus. Ulrich Matthes liest entsprechende Text-Auszüge mit der ihm eigenen, leichtfüßig subtilen Betonung.

Derjenige, der sich zuvor in der aktuellen Ausstellung Blick in die Zeit – Alter und Altern im photographischen Porträt (noch bis 07. Juli 2024) der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur Köln auf das Thema eingestimmt hat, hatte die Chance, Eribons Text mit den Fotografien in einem thematisch dichten Kontext zu assoziieren. 170 photographische Werke aus mehr als 100 Jahren sind im Mediapark zu einer vielschichtigen Darstellung des Alters und des Alterns versammelt.

In der Ausstellung sind Fotografien – Altersheim, Berlin, 1980  – von Helga Paris (*1938) zu sehen, die sie in einem Berliner Altersheim in einem vergleichbaren Zeitfenster gemacht hat. Man kann sie als Folie unmittelbar zu Eribons Text, nur ungefähr 1.000 km westlicher von Berlin, ansehen.

Lebensumstände und Lebenserfahrungen sind in den Gesichtern und Haltungen eingeschrieben. Sie wirken noch im Nachhinein wie ein bildlicher Kommentar zu Eine Arbeiterin – Leben, Alter und Sterben. Die in den Fotografien aufscheinenden existentiell menschlichen Erfahrungen wie Abschied und Tod gehen häufig mit dem Alter einher. Sie erzählen vom dem, was Eribon versucht hat, mit seiner Sprache auszudrücken.

12.03.2024

Über Peter E. Rytz Review

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