Wandern mit Schuberts Winterreise

Kalendarisch schon wieder Frühling, lädt das Aurora Orchestra im Konzerthaus Dortmund zu einer Winterreise mit und nach Franz Schubert ein. 1827 von ihm als ein Zyklus schauerlicher Lieder komponiert, wie er sie seinen Freunden ankündigte, interpretiert Hans Zender 1993, beinahe 150 Jahre später, den legendären Liederzyklus Die Winterreise als eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester.

Zender, inspiriertvom Motiv des Lebens mit seinen Höhen und Tiefen als Wanderung, schreibt mehr als nur eine musikalische Partitur. Es entsteht eine besondere gestisch akzentuierte Choreografie von Stimme und Orchesterklang, inklusive dramaturgisch gesetzte Bewegungen einzelner Instrumentalisten. Zender spürt dem Schubert-Kosmos im Kontext der Geschichte restaurativer und repressiver Metternich-Diktatur parallel zu den Spielarten romantischer Poesie nach.

Nicholas Collon wandert in Dortmund mit dem von ihm 2005 gegründeten, in London beheimateten Aurora Orchestra sowie dem Tenor Allan Clayton auf Schuberts Spuren ins Hier und jetzt. Es mutet wie ein Kommentar an, als bei WasserflutManche Trän‘ aus meinem Augen/ist gefallen in den Schnee – eine Dame im Rollstuhl das Konzert verlassen muss. Das Irdische, polarisiert zwischen Wirklichkeit und Traum, verwandelt in Seele und Geist, scheint vor der Realität in diesem Moment zu kapitulieren.

Collon findet für den Wandergedanken einen überzeugenden spielerischen Ausdruck. Eingestimmt von Pianissimo-Trommelschlägen, setzt das Orchester mit Zenders orchestrierten, frei erfundenen Vorspielen zum Lied Gute Nacht eine erste motivische Spur. Pianissimo schleift und schrammt die Pauke, Streichersaiten flirren, das Xylophon räsoniert, die Gitarre tönt hintergründig zaghaft. Die schreitenden Holzbläser betonen die Melodie.

Clayton schaut über einer weiß gestrichenen Wand als Bühne auf der Bühne von oben ins Orchester. Eine gelblich getönte Laterne beleuchtet die Szene märchenhaft surreal. Mit ihm in der Rolle des einsamen, namenlosen Wandersmann beginnt eine szenische, dramaturgisch choreografierte Winterreise, die Spiel und Gesang zu einem Gesamtkunstwerk gedeihen lässt.

Claytons Habitus, mannhaft kräftig mit Vollbart, schafft eine Bühnenpräsenz, die den Wanderer als Waldschrat, Kauz, Träumer wie gleichermaßen als Wald- und Wiesensänger sowie als Schmerzensmann charakterisiert. Seine Tenor-Wanderschaft, lyrisch gestimmt zwischen Melancholie, Trauer und dramatischem Furor klangfarbig akzentuiert, steigert sich in seiner Überzeugungskraft bis zum Der Leiermann

Nacht, Traum, Einsamkeit, Stille, Sehnsucht, Tod, gespiegelt in den ätherischen Elementen des Universums Feuer, Wasser, Erde und Luft bilden die Topoi des Liederzyklus. Beim Auftakt Gute Nacht greift Clayton in der letzten Strophe Sollst meinen Tritt nicht hören zu einem Megafon. Akustisch überblendet, kontrastiert sein Gesang Parlando laut tönend den hintergründigen Sinn des Textes.

Mit der darüber im Saal zu spürenden Irritation stellt sich unvermittelt eine die Musikgeschichte beschäftigende Frage: Schubert in seiner Zeit, wer ist das? Zender findet eine Antwort, die in Schubert einen Komponisten entdeckt, dem es gelingt, den gesellschaftlichen Druck mit künstlerischen Mitteln immer wieder zu umgehen, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Seine unmittelbar erlebte Alltagswelt zu poetisieren, indem er sie klangmusikalisch mit Lyrismen verschleiert.

Collons Winterreise-Interpretation imaginiert, beginnend mit Die Wetterfahne – Clayton versetzt die Laterne mit einem kleinen Stoß in Bewegung – tänzerisch wandernde Bild- und Orchesterformate. Mit Rückblick setzen sich einzelne Instrumentengruppen in den folgenden Liedern selbst in Bewegung. Holz- und Blechbläser gehen, links und rechts aufgeteilt, mit einem LED-Licht ins Parkett, reichen das Licht dem am Rand sitzendem Konzertbesucher und lassen das Irrlicht flackern. Derweil klangmalen Harfe und Akkordeon zusammen mit Xylophon Nun merk‘ ich erst wie müd‘ ich bin (Rast) bis zur auf Klangholzflächen klopfenden Einsamkeit (Wie eine trübe Wolke).

Claytons Kantilenen strahlen klangschön in Form von Ruf und Echo zusammen mit dem Orchester: Was hat es, dass es so hoch aufspringt, mein Herz (Die Post). In seinem Gesang entfaltet sich ein Schönheitsideal, das Schuberts Zeitgenossen, den Dichter Franz Grillparzer, als eine vegetativ wuchernde Kunst des Komponisten begeistert. Wehmut und Heimatlosigkeit interpretiert Clayton in einem Gestus, der ihn selbst unmittelbar anzurühren scheint.

Eben noch sich frühlingsträumend hingebend (und denke dem Traume nach), meint man in Der greise Kopf etwas von Schuberts Todesahnung herauszuhören. Auf die weiße Bühnenwand projiziert, verwandelt sich das gefilmte Portrait von Clayton in das eines Greises und KI-konfiguriert wieder in den auf der Bühne präsenten Sänger zurück. Das Ahnungsvolle im Angesicht des Todes charakterisiert Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus als Schuberts immer zwielichtiges, vom Tode berührtes Genie…wo es einem gewissen nur halb definierten, aber unabwendbaren Einsamkeitsverhängnis zu höchstem Ausdruck verhilft…

Nach den kammermusikalischen Intermezzi lautmalen Streicher-Pizzicati und sanft artikulierender Gitarre (Täuschung) sowie modulierenden Klarinette und Xylophon (Letzte Hoffnung) und elegischer Harfe (Die Nebensonnen) in orchestraler Klangspektren-Vielfalt. Im abschließenden Lied Der Leiermann ist eine bedrückende Ausweglosigkeit zu spüren. Über einem von der Bassposaune gestimmten Bordun-Klang signiert das Sopran-Saxophon ein fahles Todeslicht: Wunderlicher Alter, soll ich mit Dir geh’n?

Eine anrührende, fernab falscher Sentimentalität klanglich korrespondierende Schubert-Zender-Winterreise, von Collon und dem Orchester gedankentief ausbalanciert, nimmt die Zuhörer unmittelbar mit. Nirgends ist in den 90 Minuten auch nur ein Hauch von Gleichmut oder gar Gleichgültigkeit zu spüren. Mit dem charismatisch atmenden Clayton wird zu Recht ein außergewöhnlich inspiriertes und inspirierendes Konzert bejubelt.

25.03.2024

Über Peter E. Rytz Review

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