Der Kreislauf des Lebens

Geborenwerden und Sterbenmüssen ist das unabänderliche Gesetz des menschlichen Lebens. Es erstreckt sich vom ersten Laut eines Neugeborenen bis zum letzten Atemzug für eine bestimmte, subjektiv unbestimmte Zeit. Religionen haben mit ihren Riten von Hoffnung und Trauer moralisch kulturelle, ethische Haltelinien festgeschrieben.

Den Gestorbenen wird von der religiösen Gemeinschaft in einer Messe in Form eines musikalischen Requiems gedacht. Wolfgang Amadeus Mozart hat seine Missa pro defunctis nicht vollenden können. Das Requiem, 1791 auf den Tod einer österreichischen Gräfin konzipiert, wird zu seiner eigenen Totenmesse. Das Fragment des Werkes wird zum Mythos.

Mozarts Requiem-Fragment ist vielfach final bearbeitet worden. Die Version von Mozarts Schüler Franz Xaver Süssmayr überzeugt den Dirigenten Ivor Bolton in besonderem Maße. Sie ist auch die musikalische Grundlage für die Aufführung mit ihm am Pult des Sinfonieorchester Basel. Die Bezeichnung Requiem Oper, mit der die Messe am Theater Basel aufgeführt wird, assoziiert eine erweiterte Perspektive.

Romeo Castellucci verbindet in seiner Interpretation Musik, Tanz und Theater in der von ihm gebauten und beleuchteten Bühne sowie mit ebenfalls von ihm entworfenen Kostümen. Er ergänzt das Requiem-Original mit weiteren Mozart-Kompositionen, wie die Maurerische Trauermusik c-Moll KV 90, Motetten- und Kyrie-Adaptionen sowie eine erst in 1990er Jahren entdeckte Amen-Fuge. Gregorianische Gesänge zum Auftakt und zum Finale rahmen das Requiem. Sie rekurrieren die Anfänge von Kirchenmusik.

Neben professionellen Tänzern dominiert der Chor des Theater Basel gesanglich und tänzerisch total. Von Michael Clark hervorragend eingestimmt, formt die Choreographin Evelin Facchini den Chor zu einer singenden Ballett-Compagnie. Singen und Tanzen als künstlerisches Credo einer Universalität der Künste finden in dieser Requiem-Performance einen sinnfällig überzeugenden Ausdruck.

Nicht die Gesangssolisten – Alfheiour Erla Guomundsdottir, Jasmin Etezadzadeh, Ronan Caillet, André Morsch professionell routiniert -, sondern der Chor und das von Bolton hochmotivierte, klangfüllig spielende Sinfonieorchester Basel sind die künstlerischen Hauptdarsteller. Nicht zu vergessen der außergewöhnlich tonsicher singende Knabensopran Eugen Vonder Mühll (Knabenkantorei Basel).

Die Inszenierung von Castellucci ist nicht nur eine Erzählung über die Allmacht des Todes, gegen welche die Menschen machtlos sind. Sie folgt konzeptionell einem Fading out: Leben als Ursprung aller denkbaren menschlichen Schönheit. Die Geschichte des Planeten Erde ist auch eine Geschichte vom Verschwinden des Schönen einer ehemaligen Vielfalt von Pflanzen-, Tier- und Kulturwelt. Und eine vom Verschwinden des Ichs in seiner ontologischen Selbstbestimmung. Als eine kulturelle und moralisch maßlose Selbstkasteiung der Menschheit, die heute mehr denn je dazu führt, sich selbst zu vernichten.

Requiem Oper reflektiert diesen Lebenskreislauf in der Dramaturgie von Piersandra  di Matteo mit einem verhaltenem Optimismus. Im Halbdunkel steht eine alte Frau rauchend vor einem Fernsehgerät. Beliebiges Wort-Talk-Geraune ist zu hören. Sie schaltet es aus, legt sich ins Bett. Wacht nicht mehr auf. Mit dem Graduale Christus factus est beginnt das Requiem als Performance.

Das schwarz abgedeckte Bett wird von der Bühne getragen. Eine junge Frau fällt heraus und betritt das Leben neu. Die Bühne getaucht in helles Licht. Mit Beginn der Requiem-Sequenzen werden Listen von ausgestorbenen Pflanzen, Tieren und Sprachen, von vernichteten Kulturen und Orten eingeblendet. Menetekel des schleichenden Untergangs. Vorgeführt in einer theatralischen Revue. Regenbogenfarben gesprühte Wände, vor denen ein junges Mädchen in einer Art mythischer Opferungsrituale mit den von Generationen vernichteten und zerstörten symbolischen Resten einer gehabten Zivilisation beladen wird.

Die Choristen, kostümiert als eine Vielvölker-Weltgemeinschaft, flechten an einem Maibaum bunte Bänder zu einem Zopf. Metaphorisch übersetzt als das Band einer Gemeinsamkeit. Irgendwann geben sie auf. Unfertig wird der Maibaum von der Bühne getragen. Vor einem verbeulten Auto, symbolisch aufgeladenes skulpturales Objekt für die Umweltzerstörung, posieren jene als erstarrte Lebewesen à la tableaux vivants.

Nach dem vom Knabentenor innig gesungenen Antiphon In paradisum kippt die Bühne in die Senkrechte. Der dort gelagerte Zivilisationsmüll, die von den Wänden gerissenen, bunt phantasierten Zukunftshoffnungen sowie die Kleider, deren sich die Choristen zuvor im Dämmern der Zivilisation entledigt haben, rutschen ab. Ödes Niemandsland projiziert das Datum der Aufführung 17.Mai 2024 wie eine apokalyptisch tickende Zeit-Epistel.

Dem Ende wohnt nach Castellucci immer auch ein neuer Anfang inne. Die alte und die junge Frau sowie eine Frau mit einem Neugeborenen auf dem Arm betreten die Bühne. Das Baby wird in einer Decke vorsichtig vor der Resterampe abgelegt. Schmatzend und strampelnd ein Neuanfang, ein neuer Versuch, eine Hoffnung.

Dass auch für die Generation der Schuldigen noch nicht alles vergebens sein muss, wird mit einem Happy Birthday für Ivor Bolton ausgedrückt. Er hat an diesem Tag Geburtstag.

19.05.24

Über Peter E. Rytz Review

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