Tschaikowski und Schostakowitsch in Weltschmerz getrennt

Wiener Philharmoniker + Ingo Metzmacher Philharmonie Essen, 24 Januar 2017 Foto: Sven Lorenz, Essen

Wiener Philharmoniker + Ingo Metzmacher
Philharmonie Essen, 24 Januar 2017
Foto: Sven Lorenz, Essen

Was die künstlerische Substanz und die technischen Herausforderungen für jeden Solisten betrifft, so gehört das Konzert D-Dur für Violine und Orchester, op. 35
von Pjotr I. Tschaikowski zweifellos zu den Konzerten, die Publikum und Kritik immer wieder begeistern. Nicht einig ist man sich in der Transkription des Namens des Komponisten vom Russischen in die deutsche Schriftsprache.

Die Konzertprogramme des Konzerthauses Dortmund und der Philharmonie wollten es, dass man im Ruhrgebiet innerhalb von drei Tagen dieses Violinkonzert zweimal hören konnte. Weiterhin kann man die Programm-Duplizität sogar noch ins Wienerische steigern. In Wien wurde es 1881 uraufgeführt und mit den Wiener Symphonikern in Dortmund sowie den Wiener Philharmonikern in Essen ist eine seltene Gelegenheit zum Vergleich gegeben (Tschaikowskys Selbstzweifel von Currentzis aufgelöst vom 22.01.2017, hier veröffentlicht).

Dass Teodor Currentzis ein zu Ingo Metzmacher gegensätzlicher Dirigenten-Typus ist, wie auch der Kontrast zwischen den Solisten in Dortmund Andrey Baranov und Joshua Bell im Essener Konzert kaum größer sein könnte, macht den Reiz für den Besucher beider Konzerte aus. Die selbe Komposition wird gespielt, aber nicht das Gleiche ist zu hören.

Warum aber im Dortmunder Programmheft Peter Iljitsch Tschaikowsky, in Essen Pjotr Iljitsch Tschaikowski zu lesen ist und er in der Fachliteratur häufig als Pjotr Iljitsch Tschaikowskij verschriftlicht ist, deutet auf eine fehlende einheitliche Arbeitsgrundlage der Übersetzergilde.

Ein solcher übersetzungstechnischer Dissens ist dagegen, metaphorisch gesprochen, für die Interpretation einer Komposition ein kreativer Reibungspunkt. Ingo Metzmacher setzt mit dem Auftakt des Violinkonzerts ein unmissverständliches Zeichen, das die Wiener Philharmoniker auf eine beweglich musizierende Gemeinschaft einschwört.

Sein ganzer Körper von den Zehenspitzen bis zum Kopf vibriert im Rhythmus, ziseliert konsequent die Takte, befeuert das Orchester mit gestischer Verve und transformiert Tschaikowskis Melancholie in eine schicksalhafte Aufbruchsstimmung. Die dramatischen Entwicklungsmöglichkeiten des Kopfsatzes vermittelt er an das Orchester und an Joshua Bell mit choreografiertem Ausdruck. Hüpfend, als wolle er, Eiskunstläufern nachempfunden, zu einer Sprungpirouette ansetzen, zieht er das rechte Bein an, um sich mit einem energetischen Ruck hoch zu strecken. Metzmachers Dirigat ist eine Energieladestation, an die Orchester und Solist angeschlossen sind.

Das ist keine Kraftmeierei, sondern eine subtile, wenn es die Komposition verlangt, auch brachial animierende Kreation, den euphorischen Geist des Violinkonzerts hörbar zu machen.

Joshua Bells übernimmt Metzmachers gestisch und interpretative Vorgabe mit einer parallelen Körperhaltung. Tief krümmt er seinen Körper, beugt seine Knie, um aus dieser versammelten Energieposition mit impulsiv zuckender Aufwärtsbewegung Betonungen zu setzen. Im Pianissimo zaghaft zitternd wie im Fortissimo mutig aufbegehrend erklingt ein einziger Klageruf Tschaikowskis: Hört mich in meiner Not! In der Solo-Kadenz erfindet Bell einen Ton, den man eigentlich gar nicht, außer in überirdisch versunkener Kontemplation, hören kann.

Tschaikowski Weltschmerz, der an seiner Seele nagt und ihn nur zeitweise aus seinen Depressionen lässt, ist auch Dmitri Schostakowitsch nicht fremd. Aber er geht damit als Komponist völlig andere Wege. Nach Stalins Verdikt Chaos statt Musik 1936 über seine Oper Lady Macbeth von Mzensk sucht er mit ästhetischen Maskierungen und Verfremdungen, seine kompositorische Freiheit ohne Selbstmitleid 20 Jahre lang zu bewahren.

1957, 40 Jahre nach der Oktoberrevolution, Stalin lebt nicht mehr, komponiert er mit seiner  Sinfonie Nr. 11 g-Moll, op. 103, Das Jahr 1905 eine Hommage auf die revolutionären, von freiheitlich friedlichen Hoffnungen geprägten Ereignisse des Petersburger Blutsonntags vom Januar 1905.

Schostakowitschs letztlich unerfüllt bleibende Hoffnung, die Gewalt möge ein Ende haben, die sein gewaltiges, 80minütiges Opus magnum bestimmt, zeichnet Metzmacher mit einer ungewöhnlichen, musikalisch und programmatisch dialektischen Spannung von Stille bis Stillstand, von Todesklagen und Schlachtenlärm nach. Es ist ein geradezu philosophisch zu nennendes Dirigat. In der Philharmonie Essen ist eine fast magische Spannung unmittelbar spürbar.

Beginnend mit einem dunkel dräuenden, ahnungsvollen Adagio, von zwei Harfen mit den Holzbläsern gefühlvoll eingestimmt, das die Ruhe vor dem Sturm auf dem Platz vor dem Palast beschreibt, so scheinen beim In memoriam: Adagio die Töne aus einem unhörbaren Nichts zu kommen. Celesta und Solo-Cello stimmen einen Trauergesang an, der das Arbeiterlied Unsterbliche Opfer zitiert. Atemlose Spannung breitet sich in der Philharmonie aus. Selbst der zuvor immer wieder ausbrechende Januar-Erkältungshusten im Publikum macht eine atemlose Pause.

Pauke und verschiedene Schlagwerke zusammen mit einer überbordenden Klangfülle des großen Orchesters fegen mit Sturmgeläut: Allegro non troppo –  Allegro – Adagio – Allegro alle Hoffnungen davon. Krachende Marschmusik mit revolutionärem Pathos sowie das zitierte Gewaltmotiv aus Lady Macbeth von Mzensk beschwören infernalisch und apotheotisch vergeblich.

Fahle Klänge mit einem letzten Aufbegehren beenden ein ambitioniert gestaltetes Konzert, das trotz seines eher tragischen Gehalts nicht so schnell vergessen sein wird.

25.01.2017

Über Peter E. Rytz Review

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