JOE und Zeche Carl – frisch verlobt

 

@ Peter E. Rytz 2019

Neue Location, neuer Schwung! Mit 23. Joe festival auf carl wirbt die 23. Ausgabe auch schrifttechnisch frisch aufgemöbelt – aus dem vertrauten, intimen Kellerambiente des Katakomben-Theaters am Essener Hot Spot Rüttenscheider Stern hinüber nach Altessen-Mitte auf die Bühne des soziokulturellen Zentrums der Zeche Carl Essen. Deren Selbstverständnis nach ein Ort der Begegnung, der Kultur, des Selbermachens, der Kommunikation, der Teilhabe, der Information.

Geschäftsführerin und Programmmacherin der Zeche Carl, Kornelia Vossebein, fühlt sich mit den JOE-Festival-Programmmachern, Patrick Hengst und Christian Ugurel nicht allein und sichtbar erfreut pragmatisch im Schulterschluss verbunden. Vor dem abschließenden Festivalkonzert mit Vula Viel loben sie sich gemeinsam im cool sich gebenden Einverständnis mit dem Publikum für einen gelungenen Einstand.

Das  Festival schließt leider mit einem missglückten Konzert von Vula Viel, eine von der  Gyil, einem westafrikanischen Holz-Xylophone spielenden Bex Burch 2013 gegründete Band, mit einem europäischen Debüt, namentlich vieldeutig viel versprechend, aber davon im Konzert wenig einlösend. Dagegen löst JOE, die Jazz Offensive Essen e.V ihr namentliches Versprechen, Jazz offensiv zu pushen, mit dem diesjährigen Programm ein.

Manche Befürchtungen im Vorfeld, dass Teile der mehr als 20 Jahre zur Stange haltenden, inzwischen mehrheitlich ergrauten Rüttenscheider Fan-Gemeinde den Schritt nach Altenessen nicht mitmachen würden, bewahrheiten sich nicht. Selbst eine erstmals mutig konzipierte Konzert-Auswanderung in die Alte Kirche Altenessen wird akzeptiert.

Bei Temperaturen um 00 macht sich die JOE-Karawane auf den 500 m langen Weg zu Kit Downes an der Sauer-Orgel. Downes lotet die großen Orgelregister von den wuchtigen Basspfeifen bis zu den zirpenden, kleinsten Pfeifen aus. Obwohl er seine pianistischen Fähigkeiten auf der Orgel enigmatisch fließen lässt, kriecht die Kälte in der Kirche spätestens nach 30 Minuten unter die Kleider. Downes klangmächtiges Spiel durchpulst mit Kraft und Imagination die Kirche mit ihrer feinen Akustik. Der Großteil der Zuhörer fröstelt standhaft bis zum Schluss durch, während einige schon vorher aufgeben.

Die physische Kalt-Erfahrung wird umrahmt von emotionalen Musik-Wärmeschauern. Salomea alias Rebekka Ziegler, die Stimme der gleichnamigen Band, zündet mit einem Mix von Songs sowohl mit lyrisch balladesker Attitüde als auch mit groovigem Up-Tempo ein vokales und rhythmisches Feuerwerk. Gleich ihrer biegsamen Stimme, die von facettenreichen Alt-Modulationen bis ins näselnde Falsett, von narrativ liedhafter Leichtigkeit bis zum rockigen Crescendo reicht, bewegt sie sich tänzerisch ebenso elastisch in einer Mischung aus Bauchtanz und Rock. Salomea intoniert nicht allein nur Worte, sondern vor allem Emotionen.

Yannis Anft und Oliver Lutz schaffen mit ihrem Synthesizer-Equipment, das den einen oder anderen unplugged-Puristen gern schon mal die Stirn in Falten werfen lässt, einen vokal adäquat unterstützenden Piano- und Bass-Soundraum. Mehr noch: Elektronisch aufgerüstet, entwickeln sie einen Drive, unterstützt vom souverän eigenwilligen Drum-Set mit Leif Berger, der die technischen Möglichkeiten nicht effektheischend ausstellt, sondern sie farbig dem aufregend animierten Gesang von Salomea beimischt. Mit diesem Auftritt ist Salomea kein Geheimtipp mehr. Rebekka Ziegler ist ein performativ musikalisches Ereignis.

Nach dem wenige Tage zuvor umjubelten Auftritt von Daniel Erdmann’s Velvet Jungle mit dem hyperaktiven Violinisten Theo Ceccaldi beim Internationalen Jazzfest Münster Münster (Ästhetik der Kontraste vom 13.01.2019, hier veröffentlicht) bildet dieser zusammen mit seinem Bruder Valentin Ceccaldi am Cello gewissermaßen den klassische Resonanzboden des deutsch-französischen Jazzquartetts qÖÖlp.

Zusammen mit den in Klassik und Jazz ausgebildeten Ceccaldi-Brüdern begeben sich Ronny Graupe (g) und Christian Lillinger (dr), eine Art Nukleus der Gruppe, auf eine furios turbulente Klangreise. Sie spielen einen durchgehenden, 45minütigen Set. Mit einer von Graupe angekündigten Suite (von ihm, Lillinger und Valentin Ceccaldi komponiert) suchen sie nach Wahrheiten in der Musik jenseits klassischer und improvisierter Regeln und Grenzen.

Graupe artikuliert durchgehend mit aufmerksamer Notation Spannungsbögen durch gebrochene, mit Violine oder Viola perforierte und dynamisierte Riffs, die von Valentin Ceccaldis Cello weitgehend improvisierend mit akzentuierten Arabesken angetrieben werden.

Bogenhaare, die durch das expressive, körperbetonte Violinspiel von Theo Ceccaldi irgendwann jeden Bogenstrich flatternd begleiten, verfangen sich für Momente in seinem üppigen Bart. Eine symbiotische Gemeinschaft von Geist, Körper und Musik.

Lillingers Drum-Spiel, eine Klang-Hexenküche, in der es eben noch scheppert, säuselt, klingelt und bimmelt, um im nächsten Moment mit brachialem Getöse Schneisen in Klangträumereien zu schlagen, ist so hörgewichtig wie auch aktionistisch bildgewaltig.

In der qÖÖlp-Suite geschieht Musik eher in situ, als dass man den Eindruck hat, sie wird angestrengt erzeugt. Klangfarbige Pattern mischen und verketten sich. Sie transformieren die französische Übersetzung sequi in einer Abfolge von Ton- und Soundsätzen wahrhaft in eine Suite.

Dass ausgerechnet der letzte Festivaltag neben der sich in afrikanischen Trommelrhythmen versteigenden, letztlich verlaufenden Vula Viel auch Hanna Schörken mit ihrem vokalen Scratchen zwischen Gurgeln, Hecheln, Flüstern und Sprechen auf der Suche ist, aus Geräuschen Klänge zu formen, wird von manchen Zuhörern nur achselzuckend kommentiert und hinterlässt am Ende einen faden Beigeschmack.

Wäre da nicht Rieto Okuda, die für Schörkens bemühte Geräusch-Avancen mit ihren Improvisationen auf der Klaviatur, klassisch spielend, mit den Saiten-Klangmöglichkeiten des Flügels solistisch kreative Soundlösungen findet, und wäre vor allem nicht das charismatisch inspirierte Trio Velvet Revolution, hätte man den letzten Tag schnell vergessen können.

Nach Daniel Erdmanns kraftvollem Dschungel-Tête-à-Tête mit Velvet Jungle in Münster präsentiert er sich ohne den Drummer Samuel Rohrer mit seiner sanften Trio-Revolution: Velvet Revolution.

Noch intensiver als in Münster liefert Theo Ceccaldi eine dynamisierende Performance mit seiner elektrisch verstärkten Violine und Viola ab, die Erdmann in tollkühne, gleichwohl poetisch gefärbte Saxophon-Parforceritte weiterführt. Erdig getönte Klangkaskaden sprudeln aus seinem Saxophon. Sie schwemmen Melodiefetzen an Jim Harts energetisch aufgeladenes Vibraphon, verdichten und lichten sich zu Wellen, die von Ceccaldis Violine aufgesogen und durchmischt wird.

In einem scheinbar schwerelosen Widerklang schwebt der Sound sanftmütig mit revolutionärer Attitüde in der Zeche Carl. Eigentlich ein wunderbarer Festivalabschluss. Aber dann kommt ja noch Vula Viel.

23.01.2019
photo streaming
Salomea
Kit Downs
qÖÖlp
Rieko Okuda & Hanna Schoerken
Velvet Revolution
Vula Viel

Über Peter E. Rytz Review

www.rytz.de
Dieser Beitrag wurde unter Jazz veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.