Das Konzert Theater Bern rehabilitierte mit Trilogie der Träumer im Ringlokschuppen Mülheim visionäre Spinner mit liebenswürdigen Untertönen

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Die Kulturgeschichte kennt viele Figuren, die mit mehr oder weniger Erfolg, als Visionäre Geschichte geschrieben haben. In Sternstunden der Menschheit erzählt Stefan Zweig von Johann August Sutter, der Mitte des 19.Jahrhunderts Frau und Kinder in der Schweiz zurück gelassen hatte und in Kalifornien seine Vision eines erfolgreichen Unternehmersverwirklichte. Er brachte riesige Ländereien in seinen Besitz, wurde sagenhaft reich und verlor mit den ersten Goldfunden, in deren Folge Goldsucher massenhaft ihr Glück auf seinem Besitz suchten und dabei weder Recht noch Gesetz respektierten, letztlich alles.

Max Ernst machte die Geschichte des deutschen Lithografen Ernst Wilhelm Leberecht Tempel zur surrealistischen Projektionsfläche seiner grafischen Serie Maximiliana. Tempel, der in seiner Freizeit als Astronom bis dahin unbekannte Asteroide und Kometen entdeckte, wurde von den wissenschaftlichen Gralshütern der Astronomie nicht ernst genommen. Max Ernst extrahierte daraus den Satz: Er hatte Genie, aber kein Diplom.

Das Konzert Theater Bern kam jetzt im Rahmenprogramm der Stücke 2014 (NachSpielPreis) mit der Trilogie der Träumer von Philipp Löhle in den Ringlokschuppen nach Mülheim. Jan-Christoph Gockel inszenierte ein fulminantes, ungemein spielfreudiges Plädoyer für Tagträumer, Visionäre und Spinner von heute. Dass sie ihre Vorläufer, Vor-Spinner, wie die beschrieben aus dem 19.Jahrhundert (zu allen Zeiten Visionen wurde folgenreich und interessantgesponnen; häufig allerdings unerkannt verkannt und vergessen) hatten, ist gewissermaßen der Kontext von Löhles Stück als Vorgeschichte.

Mitgebracht hatten sie einen Geschichtenerzähler. Kostümiert als Koch, lud er vorab als Geschmacks-Auftakt zu einem exklusiven Essen für eine Person ein. Waldorf-Salat und Rotwein servierend die Frage: Kennen Sie Oscar Tirschky, 1866 in Le Locle nahe La Chaux-de-Fonds geboren? Oscar, der 1883 nach New York ging und binnen weniger Jahre zum Maitre des Hotels Waldorf Astoria aufstieg, und als Oscar of the Waldorf in die Hotelgeschichte einging (Waldorf Salat und viele Kochrezepte, die er, als er 1950 reich und berühmt starb, hinterließ).

Erster Fazit bevor das Spiel begann: Ohne Träumer, Spinner und Idealisten wäre nicht nur die Menschheitsgeschichte um eine biografische Episode ärmer, sondern es fehlte wie bei einem Salat das Dressing, das ihm die besondere Note gibt. Das Besondere im Visionären. Mitunter auch mit visionärem Überschwang, der sich als Stolperstein quer in den direkten Weg zum Ziel legt.

Wie überhaupt der normale, allgemein anerkannte, allseits empfohlene Weg zwar Sicherheit verspricht aber damit gleichzeitig auch Traumpfade ausschließt. Auf dem Weg zur ersten Traum-Zäsur Lilly Link oder schwere Zeit für die Rev… der Blick nach unten auf den Fußboden. Hingekritzelt: Es gibt auch ein Leben vor dem Tod. Sollte man meinen. Garnichts gibt es sehr wahrschein nicht. Wäre garnichts nicht, was wäre dann Nichts? Der Sarg ist größer als die Leiche, meistens. Was nicht passt, wird in diesem Fall passend gemacht. Und dann das, was so schwer ist: Strengen denkt an.

Streng denkend, handeln wir seit mindestens zwei Generationen so, als wäre der Inhalt einer Äusserung ausserhalb derselben. Auf die Katastrophen und Ungerechtigkeiten in der Gegenwart aufmerksam zu machen, erweist sich als mehr oder weniger zyklische Bewegung. Auf die fünf Sinne ist auch nicht immer Verlass. Wann hast Du das letzte Mal jemandem zu gehört; gerochen, wie der Frühling riecht; einen anderen in die Augen gesehen? Fragen als Flugblattaktion segeln ins Publikum.

Lilly, die junge Polit-Bardin lebt alt bewährte asketische Aufmerksamkeitsrituale, die mehr oder weniger wirkungslos verpuffen, wie sich Die Kaperer in der zweiten Versuchsanordnung als Mörchen-Figuren wechselweise in ihren mö(ä)rchenhaften Projekten verlieren. Entspannt baden in einem Fluss, in dem ökonomisch gehärtetes Wasser fließt, kann nicht gut gehen. Freizeitbaden, wo sportlich gestähltes Butterfly notwendig wäre, um mit dem eigenen Wellenauftrieb durch kraftvolle Delphinbewegungen vorwärts zu kommen.

Benedikt Greiner, Michael Pietsch, Marcus Signer, Andri Schenardi (der Ouvertüren-Koch), Mona Kloos und Philine Bürer spielen (Bühne und Kostüme: Julia Kurzweg) in mitunter sekundenschnellen Wechsel Tag- und Nachträumer mit vollem körperlichen Einsatz. Rutschend, stürzend, balancierend tauchen sie in die Fluten der harten Fakten ab – und versuchen wieder auftauchend wasserbesoffen wie begossene Pudel ihr Gleichgewicht zu finden. Gleichgewichtige Leichtigkeit, die zwischen dem kleinen Familien-Lebensglück und der einen, wirklich nachhaltigen Erfindung so schwer zu finden ist. Res severa verum gaudium.

Nach der Pause noch der Versuch mit Genannt Gospodin. Die Alltagsperspektive um 90 Grad hochkant verdreht. Aus Halb-Antipoden-Sicht die Welt im Alltag ringsum betrachten, geht nicht ohne Schwierigkeiten. Die Schwerkraft zu ignorieren, führt zu Überdehnungen und Verzerrungen. Und die können schmerzhaft sein.

Nach mehr als drei Stunden, in denen Gockel von den Schauspielern bei der Jagd nach dem Traum-Zipfel, der das besondere Glück verspricht, körperlich und stimmlich viel abverlangte, ist die Erschöpfung auch beim Publikum zu spüren. Durch die Trilogie der Träumer hat sich das Ensemble vom Konzert Theater Bern nicht nur mit schauspielerischer Bravour geschlagen. Durchgehend von der ersten Minute an war eine glaubwürdige Identifizierung mit den Figuren sowie mit den thematischen Facetten spürbar.

Am Ende die nüchterne Bilanz: Wir laufen im Kreis und kommen nirgends an. Die immer gleichen Fragen, die immer gleichen, häufig allerdings folgenlosen Antworten. Sie nicht folgenlos in die Zukunft zu entlassen, wäre nach diesem extravagant inszenierten Theaterabend des Nachdenkens mehr als wert.

30.05.2014

Über Peter E. Rytz Review

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