Konzertante Gegensätze in der Philharmonie Essen

Philharmonie Essen © PE / Frank Vinken

Die Gegensätze hätten nicht prägnanter sein können. Dass technische Perfektion sowie preisgekrönter Vorschusslorbeer keine künstlerisch überzeugende Aufführung garantieren, zeigt auf eindrucksvolle Weise das Konzert der Capella Amsterdam und des Orchesters des Achtzehnten Jahrhunderts unter Daniel Reuss in der Philharmonie Essen. Von der leidenschaftlichen, religiös intendierten Empathie, die der Johannespassion eigen ist, sowie von ihrer musikalischen Suggestion ist wenig zu spüren.

Daniel Reuss © Marco Borggreve

Weniger Tage später leuchtet dagegen an gleicher Stelle Tomáš Netopil mit den Essener Philharmonikern die Missa c-Moll, KV 427 von Wolfgang Amadeus Mozart wunderschön aus. Die mit dem später hinzugefügten Attribut Große Messe bezeichnete Komposition wird von Netopil wortgetreu in eine großartige Aufführung übersetzt.

Tomáš Netopil © Hamza Saad

Während Mozarts Messe eine Art private Huldigung in Form einer Votivgabe für seine junge Ehefrau Constanze darstellt, ist die Johannespassion von Johann Sebastian Bach die hoch dramatische und emotional vertonte Leidens- und Kreuzigungsgeschichte Jesu Christi. Ihre biblisch zentrale Bedeutung für Leben und Sterben hat Bach mit Leidenschaft komponiert.

Die Capella Amsterdam singt perfektionistisch unterkühlt. Von Bachs fiebernd pulsierender Komposition springt kaum ein Funke über. Obwohl der Chor, ohne Text- und Notenbuch singend, alle Freiheiten hat, sich vollständig auf die musikalische Interpretation zu konzentrieren, lässt sein Gesang kaum etwas von der bewegenden Geschichte spürbar werden. In aseptischer Distanz singt die Capella Amsterdam, sich allein auf die professionelle Artikulation verlassend, ohne innere Überzeugungskraft durch die dramatische Geschichte.

Daniel Reuss verordnet dem der historischen Aufführungspraxis verpflichteten Orchester des Achtzehnten Jahrhunderts eine merkwürdig verlangsamt gedehnte Tongebung. Bach hört sich beim Auftakt des Chores mit Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist! wie sein musikalischer Placebo an. Im weiteren Verlauf des Konzerts verstärkt sich der Eindruck, Reuss habe sich mit seiner Auffassung der Johannespassion um eine solitäre Perspektive bemüht. Ich werde gefallen, die lateinische Übersetzung von Placebo, hat ihn offensichtlich auf musikalisch sehr eigene Wege geführt.

Dass einzelne Instrumentalisten, während sie über längere Passagen pausieren müssen, eher desinteressierte Unlust als aufmerksames Hinhören signalisieren, verstärkt die von ihrem Musizieren ausgehende Irritation zusätzlich. Dass die Philharmonie nur lückenhaft besetzt ist und man hörbar davon ausgehen kann, dass viele der relativ wenigen Konzertbesucher niederländische Freunde, Fans oder Familienangehörige sind, hätte eigentlich eine Chance sein können, die fast familiäre Atmosphäre für eine unangestrengte, lebendige Aufführung zu nutzen.

Die Mozart-Messe ist in der Philharmonie Essen nicht nur gut besucht. Das Konzert zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie es Tomáš Netopil seit seinem Amtsantritt als Chefdirigent der Essener Philharmoniker seit Herbst 2013 gelungen ist, eine familiale Bande zwischen Orchester und Publikum in der Einheit von künstlerischem Anspruch und konzertanter Praxis zu knüpfen. Dem eigentlichen Konzert vorangestellt, gibt er mit dem Orchester und dem Philharmonischen KammerChor Essen eine launige Lektion: Die Kunst des Hörens. Beispielhaft extemporiert Netopil Mozarts  musikologische Ideen Exsultate, jubilate von Bach bis Händel.

In der Reihe der Editionen, die Mozarts fragmentarische Messe zu vollenden versuchten, ist Aloys Schmitts 1901 unternommene Praxis, die Partitur mit Teilen aus anderen Mozart-Messen zu ergänzen, prägend für die heute übliche Aufführungspraxis geworden. Insbesondere barocke Aspekte, wie der dezidierte Einsatz von Pauke und Trompete, wird unter Netopil zu einer Demonstration der außerordentlich flexiblen Klangfülle und –farbigkeit, über die die Essener Philharmoniker inzwischen verfügen.

Im Laudamus te sowie im Et incarnatus est zelebrieren die Streicher zusammen mit Oboe und Fagott einen lyrischen Mozart-Klang. Der Philharmonische KammerChor zeichnet vom anfänglichen Kyrie eleison bis zum abschließenden Hosanna in excelsis in klangmalerischer Vielfalt mit deutlich artikulierter Distinktion, wobei der Sopran im Doppelchor Qui tollis peccata mundi besonders hell leuchtet.

Überhaupt dominieren Sopran und Mezzosopran deutlich die Aufführung. Dass Mozarts Komposition dem Sopran den meisten Raum einräumt, hat sicher mit seiner Huldigung an Constanze zu tun. Ob sie allerdings die Sopran-Partie bei der ersten Aufführung 1782 in Salzburg gesungen hat, ist nicht belegt.

Belegt ist, dass Chen Reiss 2014 im Petersdom in Rom in einer Messe mit Papst Franziskus das Et incarnatus est gesungen hat, dem, wie sie sagt, wohl  magischsten Moment in ihrem musikalischen Leben. Außerordentlich gegenwärtig prägt ihr Sopran auch die Essener Aufführung. Schon mit den ersten Tönen von Laudamus te atmet ihre Stimme souverän und ausdrucksvoll. Ohne Wenn und Aber bis in die extremsten Koloraturhöhen perlt ihr lyrisch heller Sopran.

Ähnlich überzeugend, wenn auch in einer ganz anderen musikalischen Haltung die Mezzosopranistin Karin Strobos als Sopran II. Während Reiss mit der Erhabenheit einer Diva, die an Maria Callas erinnert, glorios und glamourös zugleich singt, verzaubert die hochschwangere Strobos in Anmutung einer Madonna mit dem Kind. Wo Reiss mit ihrem wie aus einem entrückten Kosmos aufscheinenden Sopran die Philharmonie als einen Klangraum flutet, leuchtet Strobos mit entwaffnender Leichtigkeit. Wenn sie eben noch beruhigend über ihren Bauch streicht, in dem neues Leben wächst, wächst sich ihre Stimme im nächsten Moment zu einer Hommage des Lebens insgesamt aus.

In der gemeinsamen Sopran-Partie Domine deus mischen sich Reisssouveräne Erhabenheit mit Strobos‘ uneingeschränkter Lebensfreude zu harmonischem Schönklang. Angesichts dieser Sopran-Höhenflüge verblassen der Tenor Dmitry Ivanchey und der Bassist Baurzhan Anderzhanov. Vermag Ivanchey bei Quoniam tu solus sanctus gegen SopranI/II kaum sängerische Akzente zu setzen, bleibt auch gemeinsam mit Anderzhanov im Benedictus beider Gesang eher blass                .

Während Mozart den Solisten, wenn auch disproportional auf die Sopran-Stimmen konzentriert, in der Missa c-Moll durchgehende Gesangspartien komponiert hat, konzentriert Bach die solistischen Anteile in der Johannespassion auf relativ wenige Einsätze. Die Passion wird vor allem von Chor und Orchester getragen, in Essen leider eingeschränkt überzeugend von der Capella Amsterdam sowie dem klangfrommen Orchester des Achtzehnten Jahrhunderts.

Teilweise werden solistische Partien von Choristen gesungen, respektive ersetzt der Chor-Tenor Johannes Klügling den erkrankten Tenor Stuart Jackson – und verpasst durch wenig inspirierten, untertourigen Gesang die Möglichkeit, sich nachhaltig in Szene zu setzen.

Thomas Walker trägt als Evangelist fast allein die Dramatik des biblischen Stoffes mit spielerischer und sängerischer Ausdruckskraft.

Carolyn Sampson, die ihre Lehrjahre des instrumentalen Singens in der traditionsreichen englischen Chor-Bewegung absolviert hat, ragt mit ihrem frischen und artikulationsfreudigen Sopran aus einem durchschnittlichen Solistenensemble heraus. Lange muss sie auf ihren einzigen Einsatz im zweiten Teil warten, so dass man sich Sorgen machen kann, sie möge sich in ihrem frühlingshaften Spaghettiträger-Kleid nicht erkälten.

Aber wie sie schon mit emphatischer Betonung die Arie Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten singt, wischt sie mit Zerfließe, mein Herze, in Fluten der Zähren die diesbezüglichen Befürchtungen mit Verve zur Seite.

Wären die andere Solisten, die Capella Amsterdam und das Orchester des Achtzehnten Jahrhunderts ähnlich Sampsons Herzblut in Fluten der Zähren zusammengeflossen, würde der Konzertbesucher der Philharmonie Essen in der letzten Woche nicht nur allein die bejubelte Mozart-Messe in Erinnerung behalten können.

10.04.2017

Über Peter E. Rytz Review

www.rytz.de
Dieser Beitrag wurde unter Konzert veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.