Kirchner neu entdecken: recto und verso

Ernst Ludwig Kirchner, Kunsthaus Zürich © Peter E. Rytz 2016

Ernst Ludwig Kirchner in allen Medien. Wer aufmerksam Ausstellungen in Deutschland und der Schweiz verfolgt, dem begegnet Kirchner in den letzten Jahren immer wieder, jetzt zu sehen noch bis zum 7. Mai 2017 im Kunsthaus Zürich mit Kirchner. Die Berliner Jahre – Grosssstadtrausch/Naturidyll zu sehen, nachdem vom 23.09.2016 bis 26.02.2017 im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart in Berlin Ernst Ludwig Kirchner. Hieroglyphen präsentiert wurde.

Ebenfalls 2016 eröffnete die ambitionierte Ausstellung Moderne Meister. „Entartete“ Kunst im Kunstmuseum Bern 2016 spektakulär mit Kirchners grossformatiger Leinwand Alpsonntag. Szene am Brunnen, 1923–25 (Die Provenienz Moderner Meister als kulturgeschichtliche Erzählung vom 15.07.2016, hier veröffentlicht).

Aber nicht nur die europäischen Kunstmetropolen entdecken im Werk Kirchners immer wieder ausstellungsrelevante Facetten, die die seiner Künstlerpersönlichkeit weitere Mosaiksteine hinzufügen.

Neben dem Brücke-Museum Berlin, wo Ernst Ludwig Kirchner in der Austellung Karl Schmidt-Rottluff – Bild und Selbstbildnis (Karl Schmidt-Rottluffs Suche nach dem Selbst vom 18.04.2016, hier veröffentlicht) mit seinem Selbstbildnis von 1914 die Varianz und die Darstellungsform von  Selbstporträts der Brücke-Maler unterstreicht, hatte auch die deutsche Provinz im westfälischen Borken mit grafischen Blättern, Aquarellen und Zeichnungen aus dem Depot der Galerie Henze & Ketterer AG, dem Archiv des Gesamtkunstwerks von Ernst Ludwig Kirchner in Wichtrach/Bern (Kirchner zeichnet in Borken, malt in Wuppertal, vom 23.02.2016, hier veröffentlicht) Kirchner für sich entdeckt.

Es stellt sich somit die Frage: Woher kommt das anhaltende Interesse an Kirchner? Als Maler war er zusammen mit den Brücke-Protagonisten einer der wirkungsmächtigsten Wegbereiter der Avantgarde und als Mensch eine schillernde und tragische Persönlichkeit zugleich. Nach den schrecklichen Erfahrungen des 1. Weltkriegs macht er in der Folge mit der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland die Verlusterfahrung einer europäischen Kultur, die ihn, ähnlich wie Stefan Zweig im Exil, in den Freitod treibt.

Die Zürcher Ausstellung fokussiert den Blick, auf das, was im Werk Kirchners zusammengehört, aber bisher über singuläre kunstwissenschaftliche Traktate hinaus nicht im Bewusstsein einer kunstinteressierten Öffentlichkeit angekommen und mit einer Ausstellung thematisiert worden ist: Grosssstadtrausch versus Naturidyll. In Kooperation mit dem Brücke-Museum Berlin ist eine eindrucksvolle, spannungsreiche Ausstellung entstanden, die in gewisser Weise Kirchner neu sieht.

Bisherige Interpretationen, die die rund 160 Werke seiner Berliner Jahre von 1911 bis 1917 in den Grossstadt-Sujets auf gesellschaftskritische Aspekte und die gleichzeitig entstandenen Fehmarn-Bilder allein als auf Natur idyllisierende Kontraste reduzieren, werden durch dialogische Ausstellungsdispositionen zumindest in Frage gestellt. Kirchners Selbstzitat Meine Bilder sind Gleichnisse, nicht Abbildungen ist als Malerei der Bewegung kuratorisch programmatisch und eröffnet dem Ausstellungsbesucher interessante Wahrnehmungsperspektiven. Getragen von dem Ideal einer Gemeinschaft von Kunst und Leben, treibt Kirchner täglich zwischen den Milieus und Sujets rastlos vorwärts. Unzufrieden mit den geschaffenen Formaten sie übermalend, ständig auf der Suche nach einer Kunst,  die es zu revolutionieren gilt, halluziniert er im Drogenrausch gleichermaßen durch die großstädtische Hektik wie durch naturidyllische  Bildwelten.

Fiebrig vibrierend sein Pinselstrich in Die Straße wie in Sich kämmender Akt, beide entstanden 1913. Der Vergleich von Aktdarstellungen in der Natur – Zwei Akte an einem Baum, Fehmarn 1912/13 – mit denen im Raum – Zwei Akte im Raum , 1914 – offenbart, wie Kirchner mit Farbe und Linie das Sichtbare ins Gleichnishafte verzerrt und verunklart. Seine Darstellungen sind wie eine beschwörende Apotheose  einer sich auflösenden Einheit von Mensch und Natur.

Er stilisiert mit seinen Bildern den Prototyp körperlich schöner Frauen seiner Zeit. Ob die Grossstadtfrauen Kokotten oder Damen einer sich in Eleganz ausstellenden Oberschicht sind, ist genauso wenig eindeutig, wie die Akte am Strand allein als Lustobjekte. Durch perspektivisch extreme Verkürzungen entstehen von kreuzenden Linien dominierte Kraftzentren. Sie werden sowohl in den Bildern von Berlin als auch von Fehmarn in ornamentalen Farbflächen gegeneinander gesetzt.

Einerseits kontrastieren sie mit den graubraunen, violetten, gelben bis altrosa gestrichenen Wandfarben der einzelnen Räume in der Ausstellungsarchitektur. Andererseits generieren die Bilder durch die Hängung nebeneinander inspirierende Dialoge am Strand – Akte im Strandwald mit Drei Badende, jeweils 1913 – und in der Stadt – Porträt Oskar Schlemmer mit Tanzpaar, jeweils 1914.

Mit recto/verso-Präsentationen gibt die Ausstellung auch dem detektivischen Forscherdrang des Besuchers Gelegenheit, in der Ausstellung seinen eigenen Kirchner zu entdecken. Wer die überzeichnete Dünenlandschaft von 1912 in verso akribisch studiert, dessen Blick fällt mit Wenden des Kopfes auf die Eisenbahnüberführung von 1914, und man wird versucht sein, genauer zu lokalisieren.

Es gibt also genügend Gründe, sich diese Ausstellung nicht entgehen zu lassen.

15.04.2017

photo streaming Ernst Ludwig Kirchner

Über Peter E. Rytz Review

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