Wo der Schuh drückt

Rebecca Horn, Aus dem Mittelalter entwurzelt, 2017 © Peter E. Rytz 2017

Die Linguistik kennt Hauchlaute. Die Kunst kennt seit Rebecca Horn Hauchkörper. Das Lehmbruck Museum Duisburg zeigt jetzt noch bis zum 2. April 2018 einen ganzen Werkzyklus: Rebecca Horn – Hauchkörper als Lebenszyklus.

Auf dem Hintergrund von Horns mehr als 50 Jahre umfassenden Arbeiten als Bildhauerin, Malerin und Performance-Künstlerin sowie als Poetin, ist, wie unterschiedlich sie auch sein mögen, eine unverwechselbare narrative Poesie eigen ist. Die Künstlerin überrascht in Duisburg mit der jüngsten Werkgruppe, der sogenannten Hauchkörper, mit kreativem Aplomb. Ich finde, dass ich am Anfang einer neuen Werkphase stehe, gibt sie in Vorbereitung der Ausstellung zu Protokoll.

Unternimmt man den durchaus naheliegenden Versuch, eine Verbindung zwischen dem linguistischen Hauch-Kontext und Horns dezidiertem Hauchkörper als Kunstobjekt zu identifizieren, bieten sich interessante Reflexionsperspektiven an.

Linguistisch betrachtet, charakterisiert der Hauchlaut Worte, die stimmlos glottal den Konsonanten h aussprechen. Die Künstlerin Rebecca Horn hat sich dagegen keineswegs stimmlos, in stummer Zurückhaltung mit ihren Arbeiten in der Öffentlichkeit gezeigt. Ihre Arbeiten sind vielmehr unmissverständlich direkt. Es geht irgendwie immer ums Ganze der conditio humana.

Form und Ausdruck ihrer Hauchkörper haben eine der Natur abgelauschte, meditative Anmutung. Ihre Körperlichkeit besetzt einen eher hintergründig leisen Wahrnehmungsraum. Es ist, als würde für den Moment ein Hauch romantischer Innerlichkeit im Raum mit den kaum merklich sich bewegen, tanzenden Hauchkörpern von 2017 schweben, wenn da nicht gleichzeitig nebenan mit Dialog der Hämmer oder Peters Geige aus den 1990er Jahren alles aus seiner Ordnung fiele.

Traumhaft surreal bewegt, öffnen die Arbeiten Räume in innere Welten. Sie sind ein offenes Kommunikationsangebot an den Ausstellungsbesucher. Über den ausgestellten Werken liegt der Widerschein einer Utopie, die man als Sehnsucht nach einem entschleunigten Leben lesen kann.

Wer vor Ast zentriert im Sonnengeflecht steht, fühlt sich mit Unendlicher Liebe umschlungen (2017). Selbst wer dem Zauber des Schildkrötenseufzerbaums nicht erliegt, wird allein Horns Poesie der Wortfindung, ihrer poetologischen Märchenhaftigkeit kaum entgehen können.

Seufzen, hauchen, staunen – alles zusammen genommen ein Fest der Sinne und des Lebens, das Kinder und Erwachsene gemeinsam – wie ansonsten selten – eine Kunstausstellung als Expedition erleben lässt. Das Universum in einer Perle gesammelt im Urblau – schweben, ein Gedicht der Künstlerin. Das existentiell Schwebende, eine geheimnisvoll gehauchte Vision.

Die Magie, die Magic Rock, ein sich öffnender und schließender, hellgrauer Lavastein, der in seinem Innern einen Bergkristall birgt, direkt benennt, findet in Das Schlangenklavier oder Amore Continental ihre Parallelen.

Quecksilber, bis vor wenigen Jahren noch in jedem Thermometer als Anzeiger für die Körpertemperatur verwendet, schlängelt sich im Schlangenklavier in kontrollierter Bewegung. Mit dem flüssigen Schwermetall Quecksilber verweist Rebecca Horn auf den mythologischen Grund des Seins zwischen Eros und Thanatos.

Wo das Schlangenklavier unmissverständlich Gift signalisiert, beschwört Amore Continental das Fundament des Lebens, die Liebe. Gleichzeitig hängt diese mit den fünf Drähten, den fünf Buchstaben von Amore an instabilen Fäden.

Festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, eine stabile Zukunft zu sichern, wer möchte das nicht. Auch wenn wir Aus dem Mittelalter entwurzelt sind, wie eine Arbeit von 2017 benannt ist, können wir in unser So-Geworden-Sein nicht einfach abstreifen. Messingstäbe ragen aus den in Bronze gegossenen Schuhen in die Höhe.

Wenn der Schuh manchmal drücken sollte, kann Rebecca Horn uns eine Ahnung davon mitgeben, woher der Schmerz rührt. Schon aus jenem praktischen Grund ist diese Ausstellung unbedingt zu empfehlen.

24.02.2018
photo streaming Rebecca Horn

Über Peter E. Rytz Review

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