As Time Goes By mit anderen Augen – 5 Städte, 4 Fotoausstellungen

In der Ausstellung "Mit anderen Augen" Kunstmuseum Bonn @ Peter E. Rytz 2016

In der Ausstellung „Mit anderen Augen“ Kunstmuseum Bonn @ Peter E. Rytz 2016

Die Fotografie hat erst relativ spät, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Eingang in den Ausstellungsbetrieb von Kunstmuseen gefunden. Die Vielfalt ihrer Ausdrucksmöglichkeiten ist mit dem vor 100 Jahren begründeten Dadaismus besonders deutlich geworden (Dada war da, bevor Dada da war vom 18.03.2016, daselbst).

Dokumentarisch fokussierte Fotografie und künstlerisch inspirierte Suchbewegungen mit fotografischen Mitteln, Innenwelt versus Außenwelt zu reflektieren, sind unterschiedliche Wege gegangen. Ihre Resonanz und Akzeptanz wird im Diskurs der Künste bisweilen kontrovers und mit manchen Ausschließlichkeitsattitüden geführt. Ob solche Vorbehalte berechtigt sind, sei dahin gestellt. Tatsache ist jedenfalls, dass die Fotografie in Kunstmuseen und in Stadtmuseen, aber auch in Galerien und in Stiftungssammlungen immer häufiger ihren Platz gefunden hat.

Das Portrait in der Kunst hat dabei mit seinem bildkünstlerischen Blick über die Jahrhunderte das Bild von Gesellschaft und Menschen wesentlich geprägt. Das fotografische Portrait ist heute anerkannter, kreativer Teil aktueller Entwicklungen in der Kunst geworden.

Wer als an Fotografie interessierter Ausstellungsbesucher in diesen Wochen beispielsweise durch Berlin, Köln, Bonn, Essen und Winterthur streift, findet ein vielfältiges und qualitativ anspruchsvolles Angebot. In ihm spiegelt sich eine enorme zeitliche und inhaltliche Bandbreite fotografischer Ausdrucksformen wider. Zu entdecken sind fotografische Portraits, die, selbst wenn sie nicht dem klassischen Portrait zu entsprechen scheinen, im Kontext von historischer Zeit und konkretem Raum dennoch portraitieren.

Auf den ersten Blick könnten die Unterschiede zwischen den Ruhrgebietsfotografien von Erich Grisar im Ruhr Museum Essen (noch bis 28. August 2016) aus den Jahren 1928 bis 1933, den fotografischen Arbeiten von Cindy Sherman in der Olbricht Collection in Berlin (noch bis 10. April 2016), der Langzeitstudie von Barbara Davatz – As Time Goes By, 1972 bis 2014 in der Fotostiftung Schweiz, Winterthur (noch bis 16. Mai 2016) sowie der Doppelausstellung Mit anderen Augen – Das Portrait in der zeitgenössischen Kunst im Kunstmuseum Bonn (noch bis 8. Mai 2016) und in der Photographischen Sammlung/ SK Stiftung Kultur in Köln (noch bis 29.05.2016) nicht größer sein.

Während Grisar die ihn umgebende Arbeitswelt im Ruhrgebiet als Teil seines eigenen Lebens in Sozialreportagen sowohl textlich als auch fotografisch dokumentierte, Sherman sich als Subjekt in geborgten Kleidern und Masken inszenierte, Davatz ausgewählte Paare der Zürcher Szene über Jahrzehnte in vier Zeitabschnitten im Studio fotografierte, stellt die Bonn-Köln-Ausstellungs-Connection künstlerische Konzepte von Einzelbildern, Serien und Rauminstallationen bis hin zu filmischen Arbeiten aus. Gemeinsam sind ihnen die Fragen: Wer bin ich? Wo bin ich? Wie beeinflussen gesellschaftliche Veränderungen subjektive Wahrnehmungen von Vertrautem und Fremden?

Es sind Fragen, die für Roland Barthes den Kern des fotografischen Portraits als ein geschlossenes Kräftefeld beschreiben: Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werde möchte, der, für den der Fotograf mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen. So zitiert aus einem Begleittext der Winterthurer Ausstellung, wo Barthes abschließend feststellt: Ein bizarrer Vorgang.

Noch bizarrer, noch komplexer, noch aufregender wird der Gang durch die vier genannten Ausstellungen, wenn sich die einzelnen Bildwelten im Kopf des geneigten Ausstellungsbesuchers aus den dort gesehenen Fotografien mit den erfahrungsgesättigten, subjektiv konnotierten Eigen-Bildern zu einem neuen Wahrnehmungskosmos zusammenfügen. Im besten Fall kommentieren bzw. reflektieren die ausgestellten Bilder die eigenen Erzählungen.

Mein Mann hat das alles noch erlebt. Ja, das war damals eine ganz andere Welt, neigt sich eine ältere Dame sichtlich gerührt ihrer deutlich jüngeren Begleiterin vor Straßen- und Markthändler oder Blumenverkäufer von Grisar zu. Immer wieder ist in Essen zu beobachten, wie sich Generationen übergreifend Ausstellungsbesucher gegenseitig versuchen zu erklären, dass, was sie sehen, mit den Bildunterschriften in Deckung zu bringen. Freibankfleisch, mit Frb. abgekürzt, neben Innereien, Schlachthof, Dortmund sind fotografisch erzählte Versatzstücke von Erzählungen aus einer längst versunkenen Welt.

Grisar 10

Aber die Ausstellung Erich Grisar. Ruhrgebietsfotografien 1928 – 1933 im Ruhr Museum Essen (noch bis 28. August 2016) ist mehr als nur eine Dokumentation. Grisar hat als überzeugter Pazifist von der Idee einer Gesellschaft von Brüderlichkeit und Gerechtigkeit im Stil der Arbeiter-Fotografie in den 1920er Jahren fotografiert, ohne eine polemisch ideologische Keule zu schwingen. Gleichwohl sind die Veröffentlichungen seiner Fotografien in der Volksblatt-Illustrierten des Ruhrgebiets Ausdruck einer Haltung, die aufklärerisch und künstlerisch ambitioniert ist.

Die Handschrift eines in den Vitrinen ausgestellten  Albumblattes von Arno Holz, Künstler sein, heißt den Mut haben, trifft in gewisser Weise auch auf Grisar zu. Die Perspektiven seiner Fotografien vereinen sowohl Aspekte der später so genannten Street Photography wie auch kreuzende und fallende Linien der russischen fotografischen Avantgarde jener Jahre (Utopie und Ernüchterung  – Russische Avantgarde im Kunstmuseum Bochum vom 30.03.2016, daselbst).

Während in der sozial-fotografischen Perspektive der Grisar-Fotografien Portraits der Straße ein nahezu selbstverständlicher Bestandteil by the way sind, entdeckt  Barbara Davatz in ihren Langzeit-Portrait-Studien von Paaren doppelte Botschaften.

Davatz Paar

Wo der Betrachter bei ihren Fotografien hinter den Oberflächen der Portraitierten über die Jahrzehnte individuelle Lebensgeschichten phantasiert und diese das Bild zur Projektionsflächemachen, bleibt Sherman als Person hinter den Fotografien der inszenierten Maskeraden unsichtbar, obwohl sie sich als ihr eigenes Model dahinter verbirgt. In dieser Anordnung ist sie ebenfalls reine Projektionsfläche.

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Davatz und Sherman bieten mit ihren Fotografien unterschiedlich strukturierte Projektionsflächen. Beiden gemeinsam ist, dass sie die Positionen des Menschen in einer sich rasant verändernden Welt kommentieren.

Shermans Arbeiten kann man als eine fotografische Enzyklopädie ansehen, die die gesellschaftlichen Stereotype der westlichen Gesellschaft reflektiert und entlarvt. Die Maske selbst ist das Gesicht und die Person. Das Individuelle verschwindet hinter dem Geklonten. Unendliche Mutationen des immer Gleichen: Ich ist immer auch schon ein Anderer. Leergelaufen, bleibt nicht mehr als eine Kopie der Kopie der Kopie.

Wenn Sherman in ihren Arbeiten Diary Tales, Disasters und History Portraits ab 1985 u.a. Prothesen oder filmische Requisiten einbaut, die David Lynchs Atmosphäre von darkside oft the life oder das Fragmentarische des Lebens in den Filmen der Nouvelle Vague antizipieren, bringt sie damit scheinbar verlässliche Wahrnehmungen ins Rutschen.

Cindy-Sherman-Untitled-Film-Still-48B-1979-©-Courtesy-of-the-artist-and-Metro-Pictures-New-York

As Time Goes By, ein Songtitel, der von Herman Hupfeld 1931  getextet und komponiert und 1942 durch den Film Casablanca von Michael Curtiz zum Kult-Aphorismus wurde, hat vielleicht in der Portrait-Serie von Barbara Davatz seinen beredtesten Ausdruck in der ästhetisch ambitionierten Fotografie gefunden.

Ähnlich der Langzeitstudie The Brown Sisters von Nicholas Nixon (letztes Jahr in der Pinakothek der Moderne in München zum 40jährigem Jubiläum!) geben die Davatz‘ Paare, die den gleichen Zeitraum zu Beginn der 1970ger Jahren bis zur Mitte der 2000er Jahre repräsentieren, eine Studie des gesellschaftlichen Wandels in dieser Zeit. So unterschiedlich das Ältergewordensein als physiologisches Phänomen nachzuverfolgen ist, prägen stilistisch modische Accessoires die Veränderungen im öffentlichen Leben. Da bei Davatz zwischen den Aufnahmen mehrere Jahre liegen, sind die zu sehenden Veränderungen radikaler bis verwirrender als bei den kontinuierlichen Jahresreihen bei Nixon. Die Identifizierung der jeweiligen Personen erfordert vom Betrachter eine imaginierte Narration. Vergleich und Zuordnung ziehen ihn automatisch in einen dialogischen Wahrnehmungsprozess hinein. Möglich, dass so eigene Liebes- oder gar langlebige Partnerschaftsgeschichten erinnert werden. Davatz hat dafür ihre eigene Erklärung: Ich empfinde es mitunter als sinnlich, ja fast erotisch, wie manche Menschen in die Kamera blicken. Wann blicken sich Menschen so tief in die Augen? Wenn sie verliebt sind!

Im Unterschied zu den auf einen Raum, wie im Ruhr Museum Essen und in der Fotostiftung Schweiz, Winterthur oder auf einige wenige mehr, wie me Collectors Room in Berlin, bespielt Mit anderen Augen im Kunstmuseum Bonn eine ganze Etage und in der Photographischen Sammlung/ SK Stiftung Kultur in Köln den größten Teil des vorhandenen Raumangebots. Von daher ist das Bildangebot, zwar beschränkt auf fotografische Arbeiten ab 1990, im wahrsten Sinne des Wortes raumgreifend. Es ist der unabgeschlossen bleibende Versuch, nach der von Klaus Honnef 1982 kuratierten Ausstellung Lichtbildnisse. Das Portrait in der Fotografie im Rheinischen Landesmuseum Bonn eine vollständige Bilanz zu ziehen.

Honnef lenkt mehr als 30 Jahre später den Blick auf die Auswirkungen von technischem Fortschritt der Digitalfotografie bis zu soziokulturellen Bildaneignungen durch das Jedermann-Selfie. Sein kenntnisreicher, überlegen argumentierender Text Das emanzipierte Portrait, nachzulesen im sorgfältig editierten, ausgewogen zwischen Textbeiträgen und Dokumentation der Fotografien gestalteten Katalog, ist gleichzeitig auch ein Anleitung, wie eine Bresche durch die Bilderflut geschlagen werden kann. Mit anderen Augen kann bedeuten, sich als Betrachter in seiner Wahrnehmung verrücken zu lassen. Mit einer anderen Augen-Perspektive die Portraits zu betrachten, hieße beispielsweise, nicht schon vorher zu wissen, was man sehen wird. Die Bilder ihre Geschichte erzählen lassen und ihnen nicht die eigene vorzuerzählen.

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Die Doppelausstellung hat mit dem August-Sander-Archiv in der Kölner Stiftung im Mediapark ihren Portrait-Anker und mit den Lichtbildnissen von 1982 einen Wendepunkt in der Anerkennung der Fotografie als bildkünstlerisches Gestaltungsmedium markiert. Von da aus zieht die Ausstellung ein weit verzweigtes fotografisches Kunst-Wegenetz.

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Wer sich zu einem Besuch in Köln und Bonn entschließt, wird viel über sich selbst, über seine Lebensumwelt und darüber erfahren, wie es hätte auch anders sein können: Mit anderen Augen. Wer zudem auch die Wege nach Berlin, Essen und Winterthur nicht scheut, hat die Chance, dem allfällig melancholisch gestimmten As Time Goes By selbstbewusst ins Auge zu schauen. Manchmal sieht man mehr, als man denkt.

photo streaming Cindy Sherman
photo streaming Erich Grisar
photo streaming Mit anderen Augen (Bonn)

07.04.2016

Über Peter E. Rytz Review

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