Yo Picasso

@ Peter E. Rytz 2019

Sechs Jahre, die die Welt veränderten. Zumindest, die der Kunstgeschichte. Pablo Picassos Werke der sogenannten Blauen Periode (1901–1904) und der Rosa Periode (1904–1906) gehören zu den subtilsten der Moderne überhaupt.

Sie in Ausstellungen zu sehen, vor dem Original stehend ihrer emotionalen Tiefgründigkeit nachzuspüren, ist in dieser Kompaktheit wohl selten möglich. Die Fondation Beyeler in Basel/Riehen hat in Kooperation den Pariser Musées d’Orsay et de l’Orangerie und dem Musée National Picasso diesen einzigartigen Kraftakt mit der Ausstellung Der junge Picasso – Blaue und Rosa Periode – noch bis zum 26. Mai 2019 zu sehen – gestemmt. Mithin eine der bedeutendsten Ausstellungen der letzten Jahre weltweit, die in Europa erstmals diese Meilensteine der Moderne erleben lässt.

Obwohl die Ausstellung in einmaliger Weise – es ist zu vermuten, dass in naher Zukunft diese Meisterwerke konzentriert in öffentlichen Ausstellungen kaum noch zu sehen sein werden (Versicherungswert: 4 Milliarden Schweizer Franken!) – Werke aus Picassos früher Phase in der Fondation Beyeler ausstellungsdidaktisch konzis und transparent zusammengeführt hat, sind außerhalb dieser Exposition in unmittelbarer Nachbarschaft weitere Arbeiten aus den stilbilden Jahren 1901 bis 1906 zu sehen.

Bildnis Mateu Fernandez de Soto (1901) oder  Homme, femme et enfant (1906) in den Sammlungen Oskar Reinhardt Winterthur und des Kunstmuseums Basel geben einen Eindruck davon, wie reich und umfangreich allein das Œuvre des noch sehr jungen Picassos ist, dass selbst die ambitionierteste Ausstellung ihn nicht vollständig abbilden kann.

Staunenswert deshalb trotzdem, wie Fillette au panier de fleurs (1905), eines der Spitzenwerke der Auktion 2018 bei Christie’s in New York aus dem aktuellen Besitz der Nahmand Stiftung den Weg nach Basel/Riehen gefunden hat. Ein Beleg dafür, wie groß die überzeugende Strahlkraft der Fondation Beyeler ist. So nimmt es nicht wunder, dass der Besucherstrom seit der Eröffnung tagtäglich nicht abreißt. Nach wenigen Wochen konnte schon der 100.000ste Ausstellungsbesucher begrüßt werden.

Davon, mit welchem enormen Selbstbewusstsein die Fondation Beyeler ihre PR-Arbeit vorantreibt, zeugt im Rahmen des Picasso-Hypes die gemeinsam mit Swisscom verabredete Aktion #myprivatepicasso. Vor wenigen Tagen war in einem Schweizer Zuhause Buste de femme au chapeau (Dora), 1939, eines der wertvollsten Gemälde Picassos aus der Museumssammlung, in einen smarten Bilderrahmen für eine Tag dort zu Gast sein.

Spektakulär und einmalig, wie Der junge Picasso selbst, leitet sie gleichzeitig zu ausgewählten Beyeler-Sammlungsbeständen der Moderne über, die in weiteren Räumen referentiell als eine instruktive Ergänzung sowie als Verweis auf die folgende epochale Periode des Kubismus zu sehen sind.

Existentiell berührend, magisch zauberhaft, universell allumfassend, sind vielzitierte Zuschreibungen, die sich angesichts der rund 75 ausgestellten Gemälde und Skulpturen immer wieder aufs Neue bestätigen. Individuelle Wahrnehmungen deklinierend, den Kanon der Kunstgeschichte bestätigend, staunt man sich Stück für Stück durch die Geschichte der Blauen und Rosa Periode von Picassos Madrider und Pariser Jahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Man entdeckt dabei, wie er sowohl die Linearität des Jugendstils als auch die Esoterik des Symbolismus mit einer monochromen Farbigkeit überwindet. Sein ikonisches Selbstportrait Yo Picasso (1901) signiert er erstmals mit dem Namenszug Picasso. Die Dominanz blauer Farbtöne läutet damit die so bezeichnete Periode ein. Wie er später erläutert, sei die Hinwendung zu dieser Farbe keine Frage des Lichts oder Farbe sondern eine innere Notwendigkeit, so zu malen.

Den Freitod des Malers und Freunds Carles Casagemas aus Liebeskummer, der Picasso wochenlang verzweifelt umtreibt, verarbeitet er mit Casagemas dans son cercueil (1901) – und findet damit seine blauen Themen: Tod, Einsamkeit, Elend. Mit Gemälden wie Buveuse d’absinthe oder Arlequin et sa campagne, beide aus dem gleichen Jahr, die eine nachdenklich melancholische Aura umgeben, erreicht schon in diesem frühen Stadium seine Handschrift ihre unverwechselbare Einzigartigkeit.

La Vie (1903), eines der rätselhaftesten Bilder ist früher künstlerischer Höhepunkt sowie Zeugnis seiner damaligen Lebensumstände. Durch finanzielle Not bedingt, übermalt er Derniers moments, das 1900 auf der Pariser Weltausstellung präsentiert wurde. Durch röntgenologische Beurteilungen gestützt, ist zu erkennen, dass der Mann in der Mitte des Bildes ursprünglich Picassos Gesichtszüge besaß, die durch die von Casegemas ersetzt sind. La Vie antizipiert allegorische Lesarten von Leben und Sterben, die Typik der Blauen Periode.

Picassos nach 1904 sichtbar bessere Lebensumstände haben sicher das Ihrige dazu beigetragen, dass seine Farbpalette heller wird. Obwohl häufig wie in der vorigen Periode die Personen freudlos ins Leere schauen – Tête d’Arlequin (1905) -, triste Beziehungslosigkeit suggerieren – Acrobate et jeune arlequin (1905) – oder einsam am gemeinsamen Schicksal tragen – Les Deux Frères (1906) -, thematisiert  Picasso in diesen Arbeiten seinen künstlerischen Selbstfindungsprozess. Harlekine, Straßenkünstler und Artisten sind Akteure, in denen er sein Künstlertum in der Gesellschaft reflektiert.

Solche häufig als randständig bezeichneten Menschen sind herkömmlich diejenigen, die allein unverstellt Wahrheiten aussprechen. In Bouffon et jeune acrobate (1905), einer Studie zum wichtigsten und größten Werk der Rosa Periode Familie de saltimbanques (1905), sitzt ein dicker Narr, dominant eine väterliche Beschützerrolle präsentierend, den man als Folie für die Figuration der Rosa Periode identifizieren kann.

Insbesondere jene Umstände – ausgestellte Studie versus in der Ausstellung nicht vorhandenes Hauptwerk – machen den Katalog zu einem kongenialen Begleiter der Ausstellung. Eine umfassende Auseinandersetzung mit den Werken dieser Perioden wäre ohne den grafisch und textlich hervorragend gelayouteten Katalog nicht nur das halbe, sinnlich intellektuelle Vergnügen. Erst mit seinen vielen kunstgeschichtlichen Hintergrundinformationen, Geschichten von Picassos Lebensumständen im Bezug zu seinen Arbeiten sowie erhellenden Anekdoten entdeckt man dessen fundamentale Bedeutung – und gleichzeitig die Bürde, die er fortan zu tragen hat: Ich wollte Maler sein und bin Picasso geworden.

Wie die weitere Geschichte allerdings zeigt, ist sie ihm dann offenbar immer leichter geworden. Denn, wer von sich behaupten kann, wenn ich arbeite, ruhe ich mich aus, kann am Leben nicht wirklich verzweifelt sein.

17.04.2019
photo streaming Der junge Picasso

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